Die Widmung: Roman (German Edition)
reichte das Telefon an Zee weiter.
Zee hielt den Blick auf den Fernseher gerichtet, während Michael umschaltete, bis schließlich Channel Five kam, der lokale Nachrichtensender.
»Was ist los?«, fragte Zee Mattei.
Man sah mehrere Autos auf der oberen Ebene der Tobin Bridge an der Seite parken. Ein Geländewagen mit offener Fahrertür stand neben dem Geländer ganz links. Die Polizei versuchte, all die Menschen zurückzuhalten, die sich über die Brüstung lehnten und nach unten zeigten. Die Fernsehkamera schwenkte über das dunkle Wasser, aber abgesehen von ein paar Vergnügungsbooten gab es nichts Ungewöhnliches zu sehen. Dann kam wieder die Reporterin ins Bild, eine Blondine mit blauem Top. Sie hielt der Kassiererin der Brückenmaut das Mikrofon hin und fragte: »Wussten Sie, dass sie springen würde, als sie angehalten hat?«
Die Kassiererin schüttelte den Kopf. »Ich dachte, sie macht die Tür auf, weil ihr das Geld runtergefallen ist.«
Ein anderer Augenzeuge, der unbedingt ins Bild wollte, beugte sich über das Mikrofon. »Sie ist nicht nur einfach gesprungen, das war der reinste Hecht.«
Die Reporterin hielt einem Mann das Mikrofon hin, der an der Seite stand und über das Geländer starrte. »Sie sollen alles mit angesehen haben«, sagte sie zu ihm.
Er sagte nichts, sondern schaute die Reporterin nur an.
Zee erkannte sofort, dass er unter Schock stand, und hoffte, er würde medizinisch betreut.
Die Frau streckte ihm das Mikrofon näher hin. »Was haben Sie gesehen?«
Als würde er plötzlich begreifen, wo er war, riss sich der Mann zusammen. Mit angewidertem und verärgertem Gesichtsausdruck schob er das Mikrofon weg. »Aufhören«, sagte er.
Zee war schwindelig. Sie hielt sich an der Sofalehne fest, um nicht umzufallen. Aus der Fahrertür des Geländewagens drang immer noch ein schwaches Piepsen, vom Zündschloss her, in dem noch der Schlüssel steckte. Es war schwach und ließ nach, aber niemand hatte daran gedacht, es auszuschalten.
Zee erkannte den Wagen.
»Ihr Mann hat eine Nachricht hinterlassen«, sagte Mattei zu Zee.
Michael starrte Zee an. Er verstand immer noch nicht, was da vor sich ging.
»Wer war das?«, fragte er schließlich.
»Mein Drei-Uhr-Termin«, sagte Zee.
3
Zee nahm den Tunnel zum North Shore und nicht die Brücke. Der alte Volvo, den sie sich während des Studiums gekauft hatte, schaffte es jedes Jahr ganz knapp durch die Inspektion, aber sie konnte sich irgendwie nicht davon trennen, obwohl sie in der Stadt nur selten das Auto nahm. Die Spur war so schlecht eingestellt, dass sie das Lenkrad fest mit beiden Händen greifen musste, um geradeaus zu fahren.
Zee hasste Tunnel – die Dunkelheit, die Feuchtigkeit, das Tröpfeln von oben. Sie stellte sich immer vor, das Wasser würde sich mit all seinem Gewicht durch die Spalten drücken, schwache Stellen finden und sich hindurcharbeiten. Sie war nicht allein. Seit dem Einsturz der Deckenplatten eines Big-Dig-Tunnels vor ein paar Jahren waren die meisten Bostoner ein wenig ängstlich, was Tunnel anging.
»Wasser findet immer seinen Weg«, sagte Zee laut, obwohl außer ihr niemand im Auto saß und es irgendwie komisch war, die eigene Stimme zu hören. Auch der Gedanke war komisch. Sie wurde nur noch verkrampfter dadurch. Denk an etwas anderes , sagte sie sich. Sie hätte doch besser über die Brücke fahren sollen. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie es überhaupt jemals wieder schaffen würde, über die Brücke zu fahren.
Mattei und Michael hatten Zee beide davon abgeraten, auf Lillys Beerdigung zu gehen.
»Weshalb solltest du dorthin?«, fragte Mattei.
»Weil sie meine Patientin war«, sagte Zee. »Weil ich ein menschliches Wesen bin.«
»Du machst dir hoffentlich keine falschen Illusionen darüber, dass die Familie dich willkommen heißen wird«, meinte Mattei.
»Ich gehe hin«, sagte Zee.
Zee hatte eigentlich vorgehabt, vor der Beerdigung noch bei ihrem Vater vorbeizufahren, aber jetzt war sie spät dran. Sie fuhr derzeit nicht oft genug mit dem Auto, um zu wissen, wie schlimm der Verkehr um diese Tageszeit war. Der Big Dig galt offiziell als abgeschlossen, aber das Verkehrschaos war geblieben. Sie hatte direkt nach Salem fahren wollen, um Finch mit ihrem Besuch zu überraschen. Sie machte sich Sorgen um ihn. In letzter Zeit hatte sie ihn nur in Boston gesehen, wenn er wegen eines Arzttermins gekommen war. Er wirkte gebrechlich und schwach. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass er irgendetwas vor ihr
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