Die Widmung: Roman (German Edition)
rollte die kleinen silbernen Kügelchen in dem bernsteinfarbenen Glas herum, als Melville hinter ihn trat.
»Was ist das?«, fragte Melville.
Finch antwortete nicht gleich.
»Strychnin«, sagte Finch. »Das hat man früher als Medizin verwendet.«
Melville war entsetzt. Er wusste sehr gut, wie Maureen sich umgebracht hatte. Es war ein fürchterlicher Tod gewesen, unerträglich schmerzhaft, ein Tod, den man seinem ärgsten Feind nicht wünschen würde. Er starrte die silbernen Kügelchen an, die Finch ihm hinhielt.
»Du hast ja wohl nicht vor, die irgendwann zu verwenden«, sagte Melville.
»Bei meiner Frau hat es funktioniert«, sagte Finch.
»Ich helfe dir.« Melville wollte nicht, dass Finch leiden musste.
Finch stand da und schaute ihn an.
»Leg das zurück.« Melville nahm das Fläschchen und stellte es zu den anderen. »Oder bitte den Mann besser, es zu entsorgen. Solche Sachen sollten hier nicht einfach herumstehen.«
Der Ladenbesitzer kam näher. Melville hielt es nicht mehr aus. Er war den Tränen nahe. Er ging nach draußen, stellte sich in die Sonne und zwang sich zu atmen.
Melville war schon weg, als Finch sich das bernsteinfarbene Fläschchen in die Tasche steckte. Nicht, dass er Melville nicht geglaubt hätte. Das tat er. Aber er wusste, wie schwer an solche Sachen heranzukommen war, und er wusste, dass Melville sein voreiliges Versprechen vielleicht nicht würde halten können, wenn es hart auf hart kam. Das Strychnin war Finchs Versicherung.
Am 20. Mai 2004 fuhr Melville mit Finch wieder in dieselbe Pension. Finch konnte keine Treppen mehr steigen, deshalb hatten sie ein Zimmer im Erdgeschoss genommen, mit Blick auf den Lake Winnipesaukee. In den letzten Wochen hatte Finch einen verwirrten Eindruck gemacht. Er hatte mehrere Termine vergessen und fand einige Sachen im Haus nicht. Melville hatte sich gefragt, ob Finch etwas ausbrütete; er hatte schon vor der Diagnose Schwierigkeiten in der Art gehabt. Normalerweise trat das auf, wenn er krank wurde.
Melville erwog bereits, den Wochenendausflug zu verschieben. Der Abend, an dem er Finch den Antrag machen wollte, sollte perfekt sein.
Am Freitag war Finch immer noch nicht krank geworden. Er wirkte zwar weiterhin verwirrt, aber er freute sich auf das Wochenende, deshalb stornierte Melville die Reservierung nicht.
Sie aßen im Mise en Place zu Abend, ein beliebtes lokales Bistro, und dann liefen sie zum Lake Winnipesaukee hinunter, um noch einen Kaffee zu trinken. Auf dem Rückweg war Finch etwas wacklig auf den Beinen und hakte sich bei Melville unter. Melville fiel auf, dass sie Blicke auf sich zogen. Vielleicht hätten sie besser nach Provincetown fahren sollen, dachte Melville, oder zumindest irgendwohin in Massachusetts. Aber nein, Finch hatte Wolfeboro immer geliebt.
Als sie zur Pension zurückkamen, nahm Finch seine Tabletten. Melville hatte Champagner besorgt, und er schenkte jedem ein kleines Glas ein, gerade genug, um anzustoßen.
»Was bedeutet das?«, fragte Finch und setzte sich neben Melville auf den Balkon.
Im Musikpavillon spielte ein Orchester »When I Fall in Love«, und die Melodie wurde über das Wasser weitergetragen. Perfekter hätte es nicht sein können.
Melville ging nicht auf die Knie. Das war ein anderer Brauch. Aber er wandte sich Finch zu und fragte ruhig: »Willst du mich heiraten?«
Finch sah ihn traurig an. Zwar war diese bedeutende und neue Gesetzgebung in Massachusetts in aller Munde, aber Finch schien die Wichtigkeit des historischen Ereignisses nichts mehr anzugehen.
»Für all das ist es jetzt viel zu spät«, sagte er.
41
Während Jessina Finch das Frühstück fütterte, ging Zee zu Walgreens, um das neue Medikament zu holen.
Als sie zurückkam, herrschte in der Küche ein einziges Tohuwabohu, auf dem Boden waren Scherben verstreut, die Jessina vorsichtig aufhob. Alles Mögliche lag wild durcheinander auf der Arbeitsfläche, selbst die Vorratsbehälter waren ausgeleert worden.
»Was ist denn hier passiert?«, fragte Zee.
»Das war Finch«, sagte Jessina. »Ich wollte nach der Wäsche sehen, und als ich zurückkam, hatte er hier alles zerlegt. Angeblich hat er etwas gesucht.«
Es sucht seine Tabletten . Diese Vorstellung erschreckte Zee, aber sie wusste, dass sie recht hatte. Normalerweise stand die Medizin griffbereit auf dem Drehtablett – mittlerweile schloss Zee sie oben im Zimmer ein. Sie hatte mit so einer Aktion gerechnet, wollte es Jessina jedoch nicht sagen. »Wo ist er jetzt?«
»Er
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