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Die Widmung: Roman (German Edition)

Die Widmung: Roman (German Edition)

Titel: Die Widmung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brunonia Barry
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anzusehen, aber nicht zeitig genug, um sie zu retten.
    In den Sitzungen mit Mattei sprach Zee häufig über ihre Schuldgefühle. Ihre Mentorin hörte zwar immer wieder zu, wenn Zee die Geschichte neu aufbereitete, aber sie duldete es nicht, dass Zee die Schuld für den Selbstmord ihrer Mutter auf sich nahm.
    »Durch dein Festhalten an dieser Vorstellung machst du dich verantwortlich dafür«, sagte Mattei. »Du schiebst dir die Schuld zu und zerstörst dann dein eigenes Leben, denn du hast zu sehr Angst davor, glücklich zu sein, weil deine Mutter ja weniger Glück hatte. Das ist ein ganz leichter Ausweg, der dich davon abhält, ein gutes Leben zu führen. Und das ist schlichtweg unter deiner Würde.«
    Zee hatte jahrelang Wut und Schuldgefühle verspürt. Sie machte sich nicht nur selbst Vorwürfe, sondern auch ihrem Vater und Melville und zu einem gewissen Anteil auch ihrer Mutter. An dieser Wut und den Schuldzuweisungen arbeitete sie derzeit mit Mattei. Wenn sie gebeten wurde, sich konkreter über ihre Wut und ihre anderen Gefühle gegenüber ihrer Familie auszudrücken, konnte Zee das nicht. In einer Familie, in der die Grenzen zwischen Eltern und Kind aufgelöst waren, hatte sie ihren Platz nie genau gekannt. Sie wusste, dass sie sich wegen dieser ungerichteten Wut und den daraus resultierenden Schuldgefühlen Hals über Kopf in ihren Beruf gestürzt hatte. Doch nun geriet sie ins Zweifeln, ob sie sich dafür eignete, besonders im Lichte dessen, was gerade mit Lilly Braedon passiert war.
    Seit Lillys Tod hatte sich Zees Wut spezifischer ausgerichtet. Sie war wütend auf Michael, obwohl sie eigentlich gar keinen Grund dafür hatte, außer dass er in sämtlichen Lebensbereichen immer genau wusste, was er wollte, während sie nicht einmal eine so simple Entscheidung treffen konnte wie die, ob sie bei der Hochzeit Sushi anbieten sollten oder nicht. Und als sie das Buch in Melvilles Koffer sah, kam all die ungelöste Wut zurück, die sie gegenüber ihrem Vater hegte.
    »Jedes Mädchen heiratet seinen Vater«, lautete eine weitere psychologische Weisheit, die Mattei gerne zitierte. Michael und Finch waren sich in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Zee fragte sich, wie viel von ihrem Widerstreben, eine Hochzeit zu planen, irgendwie mit ihrer unausgedrückten und ungelenkten Wut auf ihren Vater zu tun hatte. Aber so schwer es war, auf Maureen wütend zu sein, die zweifellos unter einer Krankheit gelitten hatte, so war es beinahe unmöglich, auf Finch wütend zu sein, wenn sie ihn jetzt sah. Am liebsten hätte sie ihn angebrüllt. Wie konnte er es wagen, Melville das Buch zu schenken, das ihre Mutter wie einen Schatz gehütet hatte? Wie konnte er so kalt sein? Aber bei seinem Anblick verspürte sie jetzt keine Wut, sondern nur Traurigkeit. In einem sehr realen Sinne existierte der Mann, auf den sie wütend war, nicht mehr. All ihre Wut auf Finch richtete sich nun gegen die Krankheit, die ihn vernichtete.
    Sie musste mit Mattei sprechen und mit Michael. Aber sie konnte nicht zurück nach Boston. Noch nicht. Erst wenn Melville zurückgekehrt war oder sie eine andere Möglichkeit gefunden hatten, ihren Vater zu versorgen.
    Am Sonntagnachmittag hinterließ Zee Michael eine weitere Nachricht. Sie hatte keine Lust mehr, auf seinen Rückruf zu warten, und war zappelig davon, nur im Haus zu sitzen, und so fragte sie Finch, ob er gerne eine Spazierfahrt unternehmen würde.
    »Wohin denn?«, fragte er.
    »Über die Route 127.«
    Offenbar war er nicht ganz überzeugt.
    »Wir können jederzeit umdrehen, wenn du müde wirst«, sagte sie.
    Er zögerte immer noch.
    »Ich kauf dir ein Eis«, bot sie an.
    »Abgemacht«, sagte er.
    Sie fuhren durch Prides Crossing hinauf und dann weiter durch Manchester-by-the-Sea. Als sie am Singing Beach vorbeikamen, wollte Finch anhalten. Sie versuchten, durch den Sand zu laufen, aber das war zu schwierig für ihn. Also setzten sie sich einfach wieder ins Auto und ließen die Fenster herunter. Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie hier gestrandet war, erinnerte sich an Finch während seiner Piratenzeit. Es war schwer, diesen Mann mit dem in Einklang zu bringen, der jetzt neben ihr saß. Sie empfand dann vor allen Dingen Mitgefühl. Zu ihrer Überraschung wurde ihr klar, dass es ihr leichter fiel, diesen Finch zu verstehen; seine Verwundbarkeit entfachte etwas in ihr, vielleicht einen unangebrachten mütterlichen Instinkt, von dessen Existenz sie gar nichts gewusst hatte.
    Zee hatte nie Kinder

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