Die Widmung: Roman (German Edition)
nicht mehr gedacht.«
Als Michael sie nicht zurückrief, begann sie nachzudenken. Darüber, was für eine schlechte Verlobte sie war. So schlecht, dass er sie allen Ernstes fragen musste, ob sie wirklich heiraten wollte. Eine Frage, die sie letztlich nie beantwortet hatte. Anschließend war Lilly an der Reihe. Eine schlechte Verlobte, eine schlechte Seelenklempnerin. Volltreffer. Dass Gefahr drohte, hatte sie erkannt, nicht aber den bevorstehenden Selbstmord. Sie war nicht fähig gewesen, ihn vorherzusehen. Genauso wenig wie den von Maureen. Zusammengefasst: eine schlechte Verlobte, eine schlechte Seelenklempnerin, eine schlechte Tochter – Triple Crown.
Es gab Ähnlichkeiten zwischen Lilly und Maureen, Dinge, die über die offensichtliche bipolare Störung und den Selbstmord hinausgingen. Da war noch etwas anderes, aber sie konnte es nicht genau fassen. Die eigentliche Ähnlichkeit bestand natürlich in etwas Persönlichem. Mattei hatte Zee darauf hingewiesen, als sie anfing, Lilly zu behandeln.
»Lilly Braedon ist nicht Maureen Finch«, sagte Mattei.
»Das weiß ich«, sagte Zee.
»Ja, und ich werde dich immer wieder daran erinnern.«
Mattei hätte sie öfter daran erinnern sollen. Schon bald nach Beginn der Behandlung begann Zee Maureen zu sehen. In einer Sitzung hatte Lilly erklärt: »Ich hätte nie Kinder bekommen sollen«, und Zee hatte unwillkürlich zustimmend genickt, was sie gleich überspielt hatte. Mit der Zeit wurde Lilly immer wichtiger für Zee; sie musste Lilly dabei helfen, an der Beziehung zu ihren Kindern zu arbeiten, musste ihre Patientin letztlich retten. Und doch erkannte Zee nichts, als sie die Zeichen hätte sehen sollen. Und obwohl sie die Nachrichten verfolgt und die Berichte der Augenzeugen gehört hatte, konnte Zee selbst jetzt noch kaum glauben, dass Lillys Tod ein Selbstmord war.
»Negieren ist schon was Komisches«, hatte Mattei am nächsten Tag zu ihr gesagt.
»So komisch nun auch wieder nicht«, antwortete Zee.
Dass Maureens Tod ein Selbstmord war, hatte Zee niemals angezweifelt. Das Bild von Maureens letzter Stunde war so tief in Zees Gedächtnis eingebrannt, dass es ihr schwerfiel, ihre Mutter überhaupt noch anders zu sehen als auf die brutale Art und Weise, auf die sie sich umgebracht hatte. Zee brauchte fünf Jahre Therapie als Teenager und weitere zwei Jahre mit der berühmten Mattei, um alltäglichere Bilder von Maureen abrufen zu können und nicht nur diesen letzten, entsetzlichen Tag. Zee wusste, wie beunruhigend es war, dass sich diese Bilder nun mit ihren Bildern von Lilly vermischten. Sie wusste, dass eine ernsthafte Therapie nötig war, um beides wieder voneinander zu trennen, aber sie war nicht bereit für diesen Prozess. Noch nicht. Zumindest bei einem Teil der Trauer, die sie wegen Lillys Tod empfand, handelte es sich um eine verzögerte Reaktion, um eine Trauer, die sie nicht empfunden hatte, aber hätte empfinden sollen, als ihre Mutter starb. Beim Tod ihrer Mutter war Zee einfach nur fassungslos.
In dieser Nacht, nachdem Finch eingeschlafen war, holte Zee den Schlüssel aus seinem Schreibtisch und schloss die Tür zu dem Zimmer im ersten Stock auf, dem Zimmer, das einst das Schlafzimmer gewesen war. Seit Finch nur noch unten wohnte, war es das Zimmer ihrer Mutter geworden. In diesem Raum hatte Zee die meisten Geschichten von Maureen gehört. Es war auch das Zimmer, in dem Maureen gestorben war.
Zee ließ sich keine Zeit, sondern begann sofort nach dem zu suchen, weswegen sie gekommen war, nach der unvollendeten Geschichte, an der ihre Mutter so lange gearbeitet hatte und die sie nie fertigstellen konnte. Als sie sie gefunden hatte, schaltete sie die Lampe aus, nahm die losen, handgeschriebenen Blätter mit nach unten und verschloss die Tür hinter sich. Die Schlüssel legte sie nicht wieder in Finchs Schreibtisch, sondern in die Küchenschublade, wo sie leichter Zugang hatte. Dann schenkte sie sich den Rest der Weinflasche des vorigen Abends in ein Glas, blickte aus dem Küchenfenster auf das dunkle Wasser des Hafens und den noch dunkleren und sternlosen Nachthimmel. Sie schloss die Fenster in der Küche, weil sich Regen ankündigte, setzte sich an den Küchentisch und begann zu lesen.
14
EINMAL – VON MAUREEN AMPHITRITE DOHERTY FINCH
Es war einmal eine Zeit, da war Salem ein großer Welthandelshafen. Viele hundert Schiffe liefen von dort aus, und tausende Menschen lebten von der See. Es gab Pfeffermillionäre und Schiffseigner, deren Boote bis nach
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