Die Wiedergeburt
Wochen hätten seine Umrisse genügt, um ihn selbst in der Dunkelheit zu erkennen. Mittlerweile war seine Veränderung jedoch so weit fortgeschritten, dass er sich zu Anfang nicht sicher war, ob es sich um seinen Bruder oder um einen umherschleichenden Ganoven handelte. Hinter Vladimir trat Mihail in den Lichtkranz einer Laterne. Gavril unterdrückte einen Fluch. Es wäre ihm lieber gewesen, Vladimir allein in den Turm von St. Giles zu locken. Mihails Anwesenheit würde alles nur komplizierter machen.
»Gavril!«, vernahm er die volltönende Stimme, die nicht länger Ähnlichkeit mit dem donnernden Bass seines Bruders hatte, und erschrak, als ihm bewusst wurde, dass Vladimir ihn sah, obwohl er noch immer im Durchgang stand – in vollkommener Finsternis.
Es dauerte einen Moment, ehe Gavril seinen Schrecken überwand, dann rief er: »Endlich! Ich dachte schon, ich finde dich nie.« Er lief Vladimir entgegen, in der Hoffnung, seine Furcht zu überwinden, wenn er nur energisch genug auftrat. Doch das Wissen, wer sich hinter den kümmerlichen Resten von Vladimirs Fassade verbarg, ließ sich nicht mehr abschütteln.
»Hast du sie gefunden?«, erkundigte sich Mihail, als er zu ihnen aufschloss.
Gavril nickte. »Sie ist in St. Giles«, sagte er hastig. Von Mondragon und seinem Begleiter sagte er nichts. Je weniger der Unendliche wusste, desto besser. »Es sah aus, als wolle sie in den Glockenturm.«
Vladimir musterte ihn skeptisch. »Und das soll ich dir glauben?«
Gavril senkte den Blick. »Ich habe einen Fehler gemacht, Vladimir. Das weiß ich jetzt. Wie oft muss ich dich noch um Verzeihung bitten, damit du mir glaubst, dass ich es aufrichtig meine?«
»Du liebst diese Frau«, sagte der Unendliche. »Aus Liebe wird häufig das größte Unheil geboren.«
»Ja, ich liebe sie, aber du bist mein Bruder!« Zumindest warst du das. »Blut ist dicker als Wasser.«
»Ja«, sagte Vladimir mit einem eigenartigen Unterton, »das ist es in der Tat.«
18
Obwohl sie den Glockenturm durch eine Außentür betreten und das Innere der Kathedrale gemieden hatten, wurden in Alexandra unangenehme Erinnerungen wach. Sie hörte den Schuss und die unzähligen Echos, glaubte den brennenden, alles verzehrenden Schmerz in ihrer Seite noch einmal zu spüren und Lucians entsetztes Gesicht zu sehen, als sie in seinen Armen gelegen hatte.
Ich will deine Augen sehen, wenn ich dich töte! Die Erinnerung ließ sie erschauern. Ihr wurde bewusst, wie knapp sie dem Tod entronnen war und wie viel sie Gavril zu verdanken hatte.
Oben angekommen, hatten sie zunächst die mitgebrachten Laternen entzündet und vor den Wänden verteilt. Nachdem Lucian seine Vorbereitungen getroffen hatte, entließ er Gavril. Alexandra stand ein gutes Stück vom Rand der Plattform entfernt und beobachtete Bothwell und Gavril, die nach unten gingen. Die steile Steintreppe, die an der Wand entlang nach unten führte, hatte ebenso wenig ein Geländer wie das Plateau, auf dem Alexandra stand. In der Mitte war der Turm offen und bot freie Sicht vom Boden bis hinauf zu den gewaltigen Kirchenglocken, die unter der kronenförmigen Kuppel hingen. Eine kleine Leiter am Rande des Plateaus führte auf eine hölzerne Plattform, von der aus die Glocken geläutet wurden. Alexandra hatte sich in großen Höhen noch nie wohlgefühlt. Das fehlende Geländer machte es nicht besser. Zu ihrer Erleichterung hatte Lucian den Kreis für das Ritual in der hinteren Ecke platziert, wo sie in ihrem Rücken und zu ihrer Rechten die Außenmauer des Turms haben würde. Denn obwohl Lucian seine genauen Pläne in Gavrils Gegenwart für sich behalten hatte, war ihr längst klar, dass sie diejenige sein würde, die das Ritual durchführte.
»Erklärst du mir jetzt, was du vorhast?« Das Kreuz noch immer in Händen, wandte sie sich zu Lucian um, der zum wiederholten Mal die Anordnung der Ingredienzien überprüfte.
»Du wirst im Zentrum des Kreises sitzen, vor der kleinen Feuerstelle«, bestätigte er ihre Vermutung. »Ich würde das Ritual selbst durchführen, doch ich muss dafür sorgen, dass dir Andrej nicht zu nahe kommt. Mit ein wenig Glück wird das Lamienkraut ihn aufhalten, auch wenn er nicht in seinem eigenen Körper steckt.«
Nach allem, was Lucian ihr über das Kraut erzählt hatte, war es in der Lage, einen Vampyr zu fesseln. Allerdings war sie nicht sicher, ob der Unendliche noch immer als solcher bezeichnet werden konnte. Doch das musste sie Lucian nicht sagen. An seiner Miene konnte sie
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