Die Wiedergeburt
ruhig, dass es ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Ich werde dich nicht erschießen.«
Obwohl sie ihn nur verschwommen wahrnahm, wusste sie, dass er lächelte. Jenes grausame Lächeln, das sie im Laufe der Jahre schon so oft an ihm gesehen hatte. Sie musste es nicht sehen, sie konnte spüren , wie es jede Pore ihres Körpers durchdrang und ihr eine Gänsehaut über Rücken und Arme jagte.
»Hier sind die Regeln«, sagte er kalt. »Ich stelle meine Frage. Wenn du sie zu meiner Zufriedenheit beantwortest, sehen wir weiter. Glaub nicht, dass ich dich dann gehen lasse – nicht, solange wir uns nicht davon überzeugt haben, dass du die Wahrheit sagst und nicht nur versuchst, uns hinzuhalten. Mich anzulügen, würde es nur schlimmer machen.«
»Vladimir, lass sie!«, versuchte es Gavril noch einmal. »Sie weiß nicht, wo er ist.«
»Beantwortest du meine Frage nicht«, fuhr Vladimir fort, ohne Gavril zu beachten, »schieße ich dir ins Knie. Dann werde ich noch einmal fragen. Falsche Antwort – anderes Knie. Danach deine Ellbogen. Wenn du mir nicht sagst, was ich wissen will, werde ich jedes Gelenk in deinem Körper zerstören, bis du nichts weiter bist als ein Haufen aus Fleisch und Knochen, der ohne die Hilfe anderer nicht mehr lebensfähig ist.«
»Ihr habt das Kreuz.« Es fiel ihr schwer zu sprechen, Angst und Schmerz lähmten ihre Zunge. Hätte er gedroht, sie zu töten, wäre sie weit weniger entsetzt gewesen. Die Vorstellung jedoch, dass ausgerechnet sie, die nie etwas mit anderen Menschen zu tun haben wollte, für den Rest ihres Lebens von der Gnade anderer abhängig sein sollte, brachte sie beinahe um den Verstand. »Ihr werdet ihn auch ohne meine Hilfe finden.«
Vladimir spannte den Hahn.
»Warte!«, rief sie. »Er hat die Stadt vor einer Woche verlassen!« Wenn es ihr gelang, die Männer zumindest für eine Weile zu beschäftigen, fand sie womöglich einen Weg, ihnen zu entkommen. »Er ist auf dem Weg nach Dover, um von dort aus nach Frankreich überzusetzen.«
»Du bist eine erbärmliche Lügnerin«, sagte er. »Seit Tagen hast du die Pension nicht verlassen. Warum ausgerechnet heute?« Ohne ihr Gelegenheit zur Antwort zu geben, fuhr er fort: »Ich will es dir sagen: Du warst bei ihm!«
Alexandra warf Mihail einen Hilfe suchenden Blick zu. Ihm war anzusehen, wie wenig ihm gefiel, was Vladimir tat, doch er würde nicht einschreiten. Nicht mehr. Als Vladimir die Pistole auf ihr Knie richtete, wandte Mihail sich ab.
Gavril sprang an seinem Bruder vorbei und trat Alexandra so heftig in den Bauch, dass sie samt Stuhl nach hinten kippte. Im selben Augenblick schoss Vladimir. Die Kugel zischte an Alexandra vorbei und schlug in die Dielen. Zu ihrer Linken explodierte das Fenster. Scherben regneten in den Raum. Die Jäger riefen sich aufgeregte Befehle zu, als plötzlich ein Schatten vor ihnen aufwuchs. Schüsse peitschten durch die Luft. Ehe Alexandra sah, was die Männer derart in Aufruhr versetzte, fand ihr Sturz ein jähes Ende. Sie prallte mit dem Hinterkopf auf den Boden und verlor endgültig das Bewusstsein.
4
Die Welt war schwarz und leer. Alexandra wusste, dass sich das ändern würde, sobald sie die Augen aufschlug, doch sie fand nicht die Kraft, die Lider zu heben. Warum war es so still? Sie lauschte in die Dunkelheit, versuchte ihr Geräusche abzuringen, doch da war nicht der geringste Laut. Als wäre alles um sie herum ausgelöscht. Nur das Hämmern hinter ihrer Stirn war geblieben und zeigte ihr schmerzhaft, dass sie noch am Leben war.
Der Untergrund hatte sich verändert, sie lag nicht mehr auf harten Holzdielen. Wo waren die Jäger? Warum konnte sie Vladimirs wütendes Geschrei nicht hören?
Obwohl sie sich vor dem, was sie womöglich erblicken würde, fürchtete, zwang sie sich nun doch, die Augen zu öffnen. Sie hatte erwartet, in ihrer Kammer auf dem Bett zu liegen, stattdessen fand sie sich in einem fremden Bett wieder, doppelt so groß wie das in der Pension. Der Himmel war mit kunstvollen Schnitzereien verziert, die geflügelte Engel darzustellen schienen, Rankenmuster schlängelten sich die Pfosten hinab, durchsetzt von Blättern, Blüten und einer Schlange, die sich im sanften Lichtschimmer zu winden schien.
Als ihr bewusst wurde, dass sie sich einmal mehr beobachtet fühlte, setzte sie sich auf. Eine Hand gegen den Kopf gepresst, als könne das den Schmerz lindern, der durch ihren Schädel tobte, sah sie sich um. In einem großen Marmorkamin knisterte ein Feuer, das
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