Die Wiedergeburt
ihre Beine unter ihr nach.
»Langsam!« Lucian hob sie auf seine Arme. Alexandra wollte protestieren, doch ihr kam nicht mehr als ein unverständliches Murmeln über die Lippen. Sie wollte ihm nicht so nah sein! Es war ihr bereits in der Kapelle schwer genug gefallen, ihn gehen zu lassen. Dass er jetzt wieder hier war, machte all ihre Versuche, ihn zu vergessen, mit einem Schlag zunichte. Da sie im Augenblick nichts gegen ihn tun konnte, lehnte sie den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Ein frischer, leicht salziger Geruch ging von ihm aus, der Alexandra an eine Brise erinnerte, die vom Meer heranwehte. Lucian trug sie die Treppen hoch, zurück in das Schlafzimmer, in dem sie zuvor erwacht war. Erst als er sie aufs Bett legte, fand sie ihre Sprache wieder. »Was ist passiert?«
»Ich werde Ihnen alles erklären«, sagte er ruhig, »aber erst schlafen Sie ein paar Stunden.«
Alexandra schüttelte den Kopf. Der Splitter! »Ich muss wissen … Sie … die Jäger –«
Lucian legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Sie sind in Sicherheit, Alexandra. Ruhen Sie sich aus.«
Sie fuhr hoch. »Sie glauben nicht im Ernst, dass ich in der Gegenwart eines Vampyrs schlafen werde!«
»Warum nicht?« Sein warmes Lächeln war das Erste, was sie deutlich wahrnahm. »Sie haben es schon einmal getan.«
Sogar schon zweimal. Seufzend sank sie in die Kissen, schloss die Augen und schlief sofort ein.
*
Nachdem Lucian die Jägerin fortgebracht hatte, rührte Robert fluchend in der Pfanne und versuchte zu verhindern, dass die Bohnen anbrannten. Schon seit Tagen war es nicht gut um seine Stimmung bestellt. Schuld an seiner Laune war die Jägerin. Er wollte sie nicht in der Stadt haben und schon gar nicht hier im Haus! Diese Frau würde sein Leben für immer verändern. Ein Leben, das erst begonnen hatte, als er bereits zehn Jahre alt gewesen war.
Er war ein Findelkind, als Säugling ausgesetzt von jemandem, der ihn nicht haben wollte. Wer seine Eltern waren und warum sie ihn aussetzten, hatte er nie herausgefunden. Einzig der Name Robert war ihm geblieben, gestickt in die Decke, in der man ihn gefunden und in Mr Wilkes Waisenhaus in der Londoner Bothwell Road gebracht hatte. Sobald Robert alt genug war, wurde er – wie die anderen auch – zu Arbeiten herangezogen. Jede noch so geringe Verfehlung und jedes Versagen wurden mit dem Rohrstock oder dem Entzug von Essen bestraft. Oft auch mit beidem. Er war so mager, dass er selbst im Sommer ständig fror. Im Winter war die Kälte kaum zu ertragen. Jeden Morgen war er in der Hoffnung erwacht, dass heute jemand kommen würde, um ihn zu adoptieren, doch die Jahre zogen dahin, ohne dass jemand den dürren Jungen mit den blonden Locken gewollt hätte. Da niemand Interesse an ihm hegte, musste er für seinen Unterhalt arbeiten. »Ihr elenden Blagen müsst es euch schon verdienen, dass ich euch durchfüttere«, hatte Mr Wilkes immer gesagt. »Wer das nicht tut, muss hungern. Also strengt euch an!«
In seinem zehnten Sommer hatte Mr Wilkes ihn zum Hafen geschickt. Die meisten der älteren Kinder arbeiteten dort, verrichteten Botengänge, lieferten Frachtgut an die Geschäfte, halfen beim Beladen der Schiffe oder beim Löschen der Ladung.
Als Robert hörte, dass er nun auch zum Hafen sollte, war er überzeugt, dass sein Schicksal damit besiegelt wäre. Wenn er nicht an einer Krankheit starb oder bei einem Unfall sein Leben ließ, würden ihm vermutlich die Straßenräuber den Garaus machen, die seit einiger Zeit nach Einbruch der Dunkelheit ihr Unwesen trieben.
Als damals die Kinder zu verschwinden begannen, machten Gerüchte die Runde. Man hätte ihre Leichen gefunden, bleich und blutleer, und die schreckensweit aufgerissenen Augen kündeten von unermesslichem Grauen. Robert hatte nie eines der toten Kinder zu Gesicht bekommen. Das änderte jedoch nichts daran, dass Kinder starben! Jeden Abend, wenn er in der Dunkelheit zum Waisenhaus zurückkehrte, warf er ängstliche Blicke in die Schatten. Er hastete durch die Gassen, lauschte in die Nacht und vernahm doch nur das Echo seiner eigenen Schritte. Eines Abends, als er den Schuppen hinter dem Waisenhaus passierte und ihn nicht einmal mehr fünfzig Schritt von der Tür trennten, hörte er ein Rascheln. Eine Ratte, die im Unrat wühlt, dachte er und erschrak fürchterlich, als eine dunkle Silhouette vor ihm aufwuchs. Robert wollte dem Mann sagen, dass er nichts bei sich trug, das es wert war, gestohlen zu werden, doch er
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