Die Wiedergeburt
jagen diese Vampyre hier?«
»Ihr Kinder seid eine leichte Beute.«
Niemand scherte sich um das Verschwinden eines Waisenkindes.
»Ich will mich verteidigen können, Mr Mondragon.«
»Wie heißt du, Bursche?«
»Robert.«
»Und weiter?«
»Nur Robert … aus der Bothwell Road, Herr.«
Lucian Mondragon runzelte die Stirn. »Nun denn, Robert Bothwell, wenn das dein Wunsch ist, werde ich dich lehren, wie du dich eines gefährlichen Feindes erwehren kannst.«
Jeden Abend, wenn sich die anderen Kinder im Schlafsaal in ihren Betten verkrochen, stahl sich Robert aus dem Haus. Lucian lehrte ihn, seine Sinne zu schärfen und zu erkennen, wann ein Vampyr in der Nähe war. Zugleich zeigte er ihm, wie er sich vor ihnen schützen konnte. Seither trug er stets ein geweihtes Holzkreuz und getrockneten Stechginster bei sich, auch wenn er nie begriff, warum der liebliche Pfirsichgeruch des Ginsters Vampyre fernhielt. Roberts ganzer Stolz jedoch war der Silberdolch, den Lucian ihm geschenkt hatte und den er eifersüchtig vor fremden Blicken hütete.
So sehr er sich anfangs vor Lucian Mondragon gefürchtet hatte, sah er doch bald einen Mentor und Freund in ihm. Den einzigen Vertrauten, den er je gehabt hatte. Nachdem Lucian ihn alles über Vampyre gelehrt hatte, ging er dazu über, Robert in einem verlassenen Hinterhof im Kampf zu unterrichten. »Wenn dir ein Vampyr gegenübersteht, ziele immer auf das Herz. Ein normaler Vampyr wird dann zu Staub zerfallen.«
»Normal«, echote Robert. »Sie sind nicht normal?« Sofern man das über einen Vampyr überhaupt sagen konnte.
»Nein, das bin ich nicht.« Lucian deutete auf den Hackstock. »Setz dich, dann werde ich dir davon berichten.«
In dieser Nacht erfuhr Robert zum ersten Mal, wer Lucian Mondragon wirklich war und wie untrennbar seine Geschichte mit dem Schicksal der Vampyre verbunden war.
Voller Erstaunen hörte er, dass Lucian danach trachtete, den Unendlichen zu vernichten. Seinen eigenen Zwillingsbruder! Doch es war nicht so einfach, der Existenz des Ersten Vampyrs ein Ende zu setzen – nicht ohne ein Relikt, auf dessen Spur Lucian bereits seit einiger Zeit war. Im Augenblick jedoch schien ihm Roberts Wohlergehen wichtiger zu sein als die Jagd auf seinen Bruder.
Eines Abends nahm er Robert mit in seine Unterkunft, ein einfaches Zimmer, das nur mit dem Nötigsten ausgestattet war, und befahl ihm, sich zu setzen. »Ich will, dass du lesen und schreiben lernst«, eröffnete er ihm und begann sofort, ihn zu unterrichten. Ein Unterfangen, das Robert weit schwieriger fand als die allabendlichen Kampfübungen. Dennoch erfüllte es ihn mit Stolz, dass Lucian sich Gedanken um sein Wohlergehen machte. Jeden Abend sorgte der Vampyr dafür, dass sein Schützling etwas zu essen bekam, eine vernünftige Mahlzeit, nicht die Wasserbrühe, die es im Waisenhaus gab. Nachdem Robert nun nicht mehr ständig Hunger leiden musste, erschöpfte ihn die Arbeit des Tages weit weniger, sodass er sich in der Nacht für einige Stunden auf seine Übungen konzentrieren konnte, ohne sofort einzuschlafen.
»Kann ich nicht bei Ihnen bleiben?«, hatte er seinen Mentor eines Nachts gefragt.
Lucian schüttelte den Kopf. »Das ist kein Leben für ein Kind.«
Trotzdem war Lucian während der folgenden beiden Jahre beinahe jeden Abend gekommen, um Robert abzuholen. Selbst nachdem Lucian längst davon überzeugt war, dass Robert künftig imstande sein würde, auf sich aufzupassen, war er noch immer von Zeit zu Zeit gekommen, um nach ihm zu sehen. Fünf Jahre, nachdem Robert dem Vampyr das erste Mal begegnet war, fand er eine zusammengefaltete Nachricht neben dem Hackstock.
Es ist besser so.
Leb wohl, Robert Bothwell.
Robert hatte die Nachricht zerknüllt und war zu Lucians Pension gerannt. Das Zimmer war verlassen, die Habseligkeiten fort. Während der letzten fünf Jahre hatte er gelernt, mit Mr Wilkes Schikanen zu leben und sie zu ignorieren. Das Wissen, dass jeden Abend jemand auf ihn wartete, hatte ihm dabei geholfen. Jetzt war er wieder allein. Ein Zustand, der ihn zutiefst bedrückte.
Als er ein Jahr später zu alt war, um noch länger im Waisenhaus zu leben, ließ Lucian ihm über einen Advokaten eine stattliche Summe zukommen. Ein Betrag, mit dem ihm die Welt offengestanden hätte. Er hätte jeden Ort bereisen, eine Schule besuchen und studieren können. Robert entschied sich jedoch, das Geld zu verwenden, um nach Lucian zu suchen. Zwei Jahre lang folgte er der Spur seines einstigen
Weitere Kostenlose Bücher