Die Wiedergeburt
es aber nicht, denn auf der anderen Seite lauerte der Schmerz. Ein angriffslustiges Raubtier, das seine Klauen in ihren Leib schlagen und sie zerfetzen würde, sobald sie die Barriere durchbrach. Doch der Schmerz war nicht das Einzige, was sie auf der anderen Seite erwartete. Hinter dem Nebel lebten die Schatten. Wesen, die nach ihr griffen, sobald sie einen Laut von sich gab. Wann immer sie näher kamen und den Nebel zu durchbrechen trachteten, trat und schlug Alexandra nach ihnen. Jede Bewegung ließ die Pein in ihrem Leib höher auflodern. Sie hielten sie fest, zwangen sie stillzuliegen und flößten ihr ein bitter schmeckendes Gebräu ein, das sie immer weiter hinter den Schleier zwang. Ihr war heiß. So entsetzlich heiß. Der Nebel heizte sich mehr und mehr auf. Die Hitze kroch durch ihre Poren, unter die Haut, in ihr Fleisch. Alexandra sah keine Flammen, doch sie wusste, dass sie brannte. Sie warf sich herum, um das Feuer zu ersticken, aber etwas hielt sie fest. Einer der Schatten.
Die Welt veränderte sich, der Nebel schwand. Alexandra war zurück in der Kapelle von Rosslyn. Sie saß auf dem Boden und starrte ins Nichts, als vor ihr der Mann mit den blauen Augen niederkniete. Erst jetzt erinnerte sie sich wieder an seinen Namen.
»Lucian«, flüsterte sie.
»Ich bin hier«, sagte er leise und griff nach ihren Händen. »Ich werde immer hier sein. Du musst nur endlich aufhören, ein Monster in mir zu sehen.«
Das hatte sie längst getan. Und das erschreckte sie. Doch Lucian war nicht wie sein Zwillingsbruder. Er war es nie gewesen und würde es niemals sein. Ihre Fingerspitzen strichen zärtlich über seinen Handrücken. Seine Haut fühlte sich kühl an, aber nicht kalt. Als er sich zu ihr beugte und sie küsste, wich sie nicht zurück. Sie nahm das Versprechen seiner Lippen entgegen – er würde immer für sie da sein. Immer. Die Zeit der Einsamkeit war vorüber. Erleichtert lehnte sie sich an ihn und versank in seiner Umarmung.
Er ist fort , flüsterte Bothwell neben ihr. Er wird nicht noch einmal in Ihre Nähe kommen.
Doch wie war das möglich? Sie spürte seine Umarmung, seine Nähe, seine Liebe. Wie konnte er fort sein?
Sie waren für ihn nicht mehr als die Faszination am Spiel mit dem Feuer!
Mit einem Ruck löste sie sich aus Lucians Umarmung. »Ist das wahr?« Die Worte kamen nur mühsam über ihre Lippen, doch sie mussten ausgesprochen werden. »Hast du mich die ganze Zeit über belogen? Bin ich für dich nur ein Zeitvertreib? Ein dummes Weib, das zu glauben bereit war, dass du ihr Gesicht seit Jahrhunderten in deinen Träumen siehst?«
Seine Hände ruhten noch immer auf ihren Armen. Jeden Augenblick würde er ihr versichern, dass er sie liebte und dass er sie niemals belogen hatte.
Alles wird gut!
»Er hat es dir also gesagt.«
Alexandra fuhr zurück.
»Robert hat recht«, fuhr Lucian ungerührt fort. »Ich habe mein Interesse an dir verloren.« Hinter ihm wuchs ein Schatten empor, legte sich über ihn und hüllte ihn ein, wie die Schwärze Alexandra lange Zeit eingehüllt hatte. »Solange du mich gehasst hast, war es ein spannendes Spiel. Doch es hat seinen Reiz verloren. Sieh mich nicht so an. Du wärst bereitwillig in mein Bett gestiegen! Ich habe gesiegt.«
Der Schatten über ihm wurde größer, gewann mehr und mehr an Kontur. Sie musste ihn warnen! Doch sie saß nur still da, wartete und beobachtete. Die Dunkelheit formte sich zu einer menschlichen Gestalt. Groß und schlank, nicht länger bullig und gedrungen – das Schwarze Kreuz bedrohlich in den Händen. Die Gestalt hob das Kreuz und beugte sich vor. Für einen Moment war das Gesicht nicht länger hinter den Schatten verborgen. Entsetzt starrte Alexandra in das Spiegelbild ihrer eigenen Züge, ehe sie Lucian das Schwarze Kreuz von hinten ins Herz stieß.
Lucians Blick war auf sie gerichtet. Die stumme Anklage eines Mannes, der sein Leben für sie gegeben hätte. Dann zerfiel er zu Staub.
Mit einem gellenden Schrei fuhr Alexandra hoch. Glühender Schmerz explodierte in ihrem Leib, ihr Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, es würde in ihrer Brust zerspringen, und die Hitze, die sie zu verzehren drohte, riss ebenso an ihrem Bewusstsein wie die Qualen in ihrem Innersten.
»Lucian!«, schrie sie. Immer wieder: »Lucian!«
Sofort griff einer der Schatten durch den Nebel nach ihr und hielt sie fest. Alexandra versuchte sich zu wehren, doch der Schmerz und das Entsetzen hatten ihr alle Kraft geraubt. Sie schrie, bis sie heiser
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