Die Wiedergeburt
Mihail zu Hause gewesen, hätte das ihr Ende bedeutet.
Sein erster Impuls war gewesen, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Doch Vladimir wusste, dass sie verletzt war, und würde vermutlich alle Krankenhäuser nach ihr absuchen. Die Jäger waren noch nicht lange in Edinburgh, sodass Gavril hier keinen Arzt kannte. Sich erst auf die Suche nach einem zu machen, konnte er sich nicht erlauben. Das Leben hätte ihren Leib verlassen, ehe er einen fand. Gavril hatte jedoch von einem Kloster vor den südlichen Toren der Stadt gehört. Die Nonnen dort hatten während der letzten Aufstände Verwundete versorgt. Sie würden wissen, was bei Schusswunden zu tun war.
Ohne lange nachzudenken, war er mit Alexandra auf die Straße gelaufen und hatte eine Droschke angehalten. Dem neugierigen Kutscher hatte er erklärt, dass seine strenggläubige Schwester einen Schwächeanfall erlitten hatte und sich nur von den Nonnen behandeln lassen wollte. Da hatte sich der Mann auf den Bock geschwungen und sie in Windeseile zum Kloster des Heiligen David gebracht.
Die Nonnen hatten lange um Alexandras Leben kämpfen müssen. Nachdem sie ihr die Kugel aus dem Fleisch geschnitten hatten, war das Fieber mit jedem Tag weiter gestiegen. Die Wunde rötete sich immer mehr, und für einige Zeit sah es so aus, als würde die Entzündung weiter fortschreiten. Tagelang war Alexandra in einem Zustand zwischen Leben und Tod gefangen gewesen, ohne ein einziges Mal zu sich zu kommen. Immer wieder reinigten die Nonnen die Wunde und bestrichen sie mit Salben und Tinkturen. Eine der Frauen war ständig in der Nähe, wechselte Alexandras Verbände, tupfte ihr die fiebrige Stirn mit einem kühlen Tuch ab und gab ihr in regelmäßigen Abständen Laudanum, um ihr zumindest die Schmerzen zu nehmen.
Obwohl Gavril vor Sorge außer sich war, konnte er nicht an ihrer Seite bleiben. Die Tage verbrachte er in der Gesellschaft der Jäger, bemüht, sich seinen Kummer nicht anmerken zu lassen, und setzte mit ihnen die Jagd nach dem Vampyr fort. Während der Nächte stahl er sich davon, um die dunkelsten Stunden an Alexandras Seite zu verbringen, ehe er im Morgengrauen ins Haus zurückkehrte.
Er hatte wahrlich versucht, in ihr eine Verräterin zu sehen und sie ihrem Schicksal zu überlassen, doch er konnte es nicht. Wenn er sie ansah, fand er in ihr noch immer dieselbe junge Frau, die er seit so vielen Jahren verzweifelt liebte. Er konnte unmöglich zulassen, dass sie Vladimir in die Hände fiel.
Während der vergangenen beiden Tage hatte sich ihr Zustand ein wenig gebessert. Das Fieber war gesunken und die Entzündung ging langsam zurück. Es gelang ihr, die Augen zu öffnen, auch wenn Gavril bezweifelte, dass sie viel von ihrer Umgebung wahrnahm. Das Laudanum vernebelte ihr noch immer die Sinne, doch die Nonnen begannen bereits die Menge zu reduzieren, die sie ihr verabreichten.
Einzig die Träume verfolgten sie weiterhin. Oft schrak Gavril auf, wenn sie einmal mehr aus dem Schlaf fuhr und den Namen der Kreatur rief. Wohl wissend, dass sie ihn nicht erkannte, versuchte er sie zu beruhigen. Er setzte sich an ihre Seite, hielt ihre Hand und redete leise auf sie ein.
Heute Nacht war es nicht anders. Er saß auf der Bettkante, tupfte ihr den Schweiß von der Stirn und flüsterte ihr ins Ohr, dass alles gut werden würde. Als er sich zur Seite drehte, um das Tuch erneut ins Wasser zu tauchen und ihr dabei seine Hand entzog, rief sie ins Halbdunkel: »Lucian?«
Sofort griff Gavril nach ihrer Hand. »Ich bin hier. Hab keine Angst.«
Da seufzte sie leise, schloss die Augen und schlief sofort wieder ein. Gavril selbst hatte ihr nie Trost spenden können, wie es diese Kreatur scheinbar vermochte. Warum dieses Monster! Warum nicht ich?
*
Jedes Mal, wenn sie erwachte, lichtete sich der Nebel ein Stück mehr. Mit ihren Sinnen kehrte auch der Schmerz zurück, er war jedoch auf ein erträgliches Maß geschrumpft. Ihn zu spüren war ihr allemal lieber, als weiter hinter der weißen Wand gefangen zu sein.
Wann immer sie die Augen aufschlug, nahm sie ein wenig mehr von ihrer Umgebung wahr. Anfangs nur ihre Schlafstatt, ein einfaches Bett mit weißen Decken und Kissen, daneben ein kleiner Nachttisch. Später die ganze kleine Kammer. Ein dunkler Holzboden, Wände aus schmucklosem, grauem Stein und eine schmale Verbindungstür. Das Fenster war winzig und ließ nur wenig Tageslicht herein. Davor stand ein Tisch, auf dem jemand ihren Mantel und die übrigen Gewänder abgelegt
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