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Die Wiedergeburt

Die Wiedergeburt

Titel: Die Wiedergeburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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Tür zu seinem Schlafzimmer blieb er stehen. Er hatte die Hand schon nach der Klinke ausgestreckt, als er kehrtmachte und zu Alexandras Zimmer ging. Ihre Tasche stand noch unberührt am Fußende des Bettes. Daneben lag ihr Gehrock. Lucian griff danach. Seine Finger strichen über den dicht gewebten Stoff, aus dem ihr Geruch emporstieg, als stünde sie selbst vor ihm. Er sog ihren Duft ein und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis der Schmerz und die Trauer ihn zerrissen.
    War es das, wovon die Wahrsagerin gesprochen hatte? Würde Alexandras Tod auch ihn umbringen? Langsam und qualvoll, jeden Tag, den er ohne sie sein musste, ein wenig mehr?
    Er zog die zusammengefalteten Blätter aus seiner Tasche. Dafür war sie gestorben. Für ein paar lächerliche Seiten Papier. Sie ist nicht dafür gestorben, sondern für mich! Alexandra hatte ihn schützen wollen. Andernfalls hätte sie sich niemals auf die Suche nach dem Ritual begeben. Sein Blick strich über die zerknitterte Oberfläche und die feinen rostroten Tropfen darauf, durchbrochen von Fingerabdrücken aus getrocknetem Blut. Ihrem Blut.
    »Kann ich etwas für dich tun?«
    Lucian sah auf.
    Robert stand neben der Tür und betrachtete ihn nachdenklich. »Ich weiß nicht, was ich sagen kann oder soll – außer, dass es mir leidtut.«
    Er schüttelte den Kopf. »Worte bringen sie nicht zurück.«
    »Kann ich sonst etwas tun?«
    »Lass mich einfach allein.«
    »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, widersprach Robert.
    Lucian wollte ihn anschreien, wollte ihm sagen, dass er verschwinden solle. »Ihre Liebe wird mir den Tod bringen«, flüsterte er stattdessen. » Mir! Nicht ihr!« Sie konnte nicht tot sein. Das durfte sie nicht. Nicht sie! Er tastete nach dem Band, versuchte sie zu finden und ihre Nähe zu spüren. Doch es war fort. Durchtrennt von Vladimirs Pistolenkugel.
    Das alte Weib hatte sich geirrt. Nicht Alexandra würde ihn umbringen, sondern er sie. »Meine Liebe hat sie umgebracht. Nach Andrejs Ende hätte ich sie ziehen lassen sollen und nie wieder in ihre Nähe kommen dürfen.« Doch sein Egoismus hatte ihn immer wieder zu ihr getrieben. »Es ist meine Schuld.«

12
    Die Welt hatte sich in Schwärze aufgelöst.
    Es gab keinen Schmerz, keine Angst und keine Einsamkeit. Nur Dunkelheit. Alexandra hieß sie ebenso willkommen wie das Vergessen, das unter ihren Schwingen reiste. Nach all den Jahren des Kampfes war sie erleichtert, endlich Erlösung zu finden. Die Welt würde sie vergessen, so wie Alexandra die Welt vergaß. Bilder, die sie ihr Leben lang in ihrem Herzen getragen hatte, begannen zu verblassen. Sie vermochte nicht länger, sich an das Lächeln ihrer Mutter, das fröhliche Zwinkern ihres Vaters oder die Neckereien ihres Bruders zu erinnern. Die Gesichter ihrer Familie verschwammen mehr und mehr. Schon bald gelang es ihr kaum noch, sich ihrer Namen zu entsinnen. Sie begann zu vergessen, woher sie gekommen und wohin sie gegangen war. Orte, Namen, Gesichter – nichts war mehr von Bedeutung. Sie konnte die Menschen, deren Antlitz sie sah, nicht länger unterscheiden. Gesichter wurden eins mit der Schwärze, die sie immer mehr verschlang. Nur ein einziges Bild begleitete sie noch auf ihrem Weg durch das undurchdringliche Nichts. Ein hochgewachsener Mann mit schwarzem Haar und durchdringenden blauen Augen. Wohin sie sich auch wandte, er war bereits dort. Er hatte ihrer Familie Schreckliches angetan und zugleich hatte er sie – Alexandra – gerettet. Er war der Mann mit den zwei Gesichtern. Mächtig, liebevoll und abgrundtief böse. Sie wollte auch ihn aus ihrem Gedächtnis bannen, doch während die Erinnerung an ihr Leben immer weiter verblasste, blieben seine Züge erschreckend klar. Wann immer sie ihn erblickte, verspürte sie den Drang, ihm zu entfliehen. Zugleich wollte sie die Hand nach ihm ausstrecken, um ihn festzuhalten.
    Als der Nebel kam, begann auch sein Antlitz zu entschwinden. Ihn zu verlieren, war schmerzhafter als alles andere. Er war alles gewesen, was ihr von ihrem Leben geblieben war. Er war ihr Leben. Wenn sie ihn ansah, erinnerte sie sich an all das, was sie einst ausgemacht hatte. Hass, Furcht, Wärme und Liebe. Der Nebel nahm ihr auch das. Nun war sie wirklich allein – und zum ersten Mal wünschte sie, es nicht zu sein.
    Der Nebel füllte die Schwärze, hell und undurchdringlich wie eine Mauer. Dahinter wartete das Leben mit all seinen Erinnerungen. Sie wusste, dass sie den Nebel hinter sich lassen musste, wagte

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