Die Wiedergeburt
Sie spürte, wie ihr die Augen zufielen, trotzdem zwang sie sich, die nächste Frage zu stellen. »Wie lange bin ich hier?«
»Beinahe zwei Wochen.«
»Zwei …?« O Gott! Lucian wusste noch immer nicht, dass er den Splitter nur zusammen mit dem Kreuz vernichten konnte. Was, wenn er das Ritual durchgeführt hatte und etwas Schreckliches geschehen war? Unwillkürlich tastete sie nach dem Band zu Lucian, doch sie war zu schwach, um es zu fassen zu bekommen. Immer wieder entglitt es ihr, ohne dass es ihr gelungen wäre, die vertraute Wärme zu spüren, die die Verbindung stets in ihr hervorrief. Sie versuchte es weiter, so verzweifelt, dass ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Das Band nicht zu finden, war, als hätte man ihr nicht nur die Kugel aus dem Leib geschnitten, sondern ihr auch einen Teil ihrer Seele genommen. Was, wenn es nicht an ihrer eigenen Schwäche lag? Was, wenn es tatsächlich durchtrennt war? Das würde bedeuten, dass … »Würdest du mir die Wahrheit sagen, wenn Lucian nicht mehr am Leben wäre, Gavril?«
Er dachte einige Zeit über ihre Frage nach, ehe er nickte. »Das würde ich.«
»Er ist nicht hier und ich kann …« Ich kann ihn nicht spüren! »… mir nicht erklären, warum. Bitte, Gavril.«
»Er ist Vladimir entkommen, falls es das ist, was dich interessiert«, sagte Gavril finster. »Bisher haben wir nicht die geringste Spur von ihm. Es ist, als hätte sich die Erde aufgetan und ihn verschlungen.«
Vielleicht hatte er sich versteckt und war zu weit entfernt, sodass sie die Verbindung nicht spüren konnte. Oder sie war tatsächlich noch zu geschwächt. Daran, dass Bothwell recht haben und Lucian tatsächlich gegangen sein könnte, wagte sie nicht zu denken. Ihr Blick schweifte haltlos durch den Raum, ehe er auf ihrem Mantel verharrte.
»Es ist nicht mehr da«, sagte Gavril.
Alexandra sah ihn irritiert an.
»Das Buch«, erklärte er. »Ich habe es verbrannt. Dieses Kreuz hat uns allen nur Unglück gebracht. Ich will nichts mehr davon wissen. Sobald dieser Vampyr vernichtet ist, werde ich auch das Kreuz zerstören.«
Du Narr! Erleichtert, dass sie Lucian zumindest das Ritual gegeben hatte, sank sie in die Kissen zurück und schloss die Augen. Plötzlich war sie zurück in der Kathedrale von St. Giles. Aus dem Schatten hinter der Säule rief Vladimir: »Jägerin! Ich kann dich riechen!«
Alexandra schreckte auf.
Gavril musterte sie besorgt. »Wieder ein schlechter Traum?«
»Eine Erinnerung.« Es fiel ihr schwer, in Worte zu fassen, was ihr durch den Kopf ging. »Vladimir war … anders. Schon in der Bibliothek und auch später in St. Giles. Er hat mich Jägerin genannt und er sagte, er könne mich riechen. Da war etwas in seinen Augen … so fremd.«
Gavril runzelte die Stirn.
»Es ist nicht das Fieber, das aus mir spricht«, versuchte Alexandra zu erklären. »Da ist etwas an ihm – ich kann es nicht benennen und auch nicht fassen, aber es ist da.«
Sie war zu erschöpft, um fortzufahren, und Gavril schien nicht gewillt, auf ihre Worte einzugehen. Stattdessen griff er nach ihrem Wasserbecher und schob ihn auf dem Nachttisch hin und her. Wasser schwappte über den Rand und hinterließ nasse Ringe auf dem Holz, die rasch verwischten, als er das Gefäß weiter von einer Seite zur anderen wandern ließ. Eine Ewigkeit verstrich, in der er seine volle Aufmerksamkeit dem Becher schenkte. Es fiel Alexandra immer schwerer, die Augen offen zu halten.
»Manchmal habe ich das Gefühl, er ist nicht länger er selbst.« Gavrils leise Worte rissen sie von der Schwelle des Schlafes zurück. »Er geht anders, er spricht anders, selbst die Art, wie er mich ansieht, scheint eine andere zu sein. Manchmal ist es, als stünde ich nicht meinem Bruder, sondern einem Fremden gegenüber.«
Alexandra verdrängte ihre Müdigkeit und setzte sich ein Stück auf. Sofort wogte eine Welle des Schmerzes durch ihre Seite. Sie biss die Zähne zusammen und hielt den Atem an, bis das Schlimmste vorüber war. »In der Bibliothek hatte ich das Gefühl, er könne mich mit seinem Blick zwingen, ihm zu verraten, wo der fehlende Teil des Kreuzes ist.« Es war lächerlich. Nur mächtige Vampyre beherrschten es, Menschen unter die hypnotische Macht ihres Blickes zu zwingen. Aber Vladimir war kein Vampyr!
»Manchmal glaube ich, dass allein seine Augen mich davon überzeugen könnten, etwas zu tun«, sagte Gavril. »Was er sagt und verlangt, erscheint so klar und vernünftig. Wenn ich mich jedoch abwende, wird mir
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