Die Wiedergeburt
Nachricht zu übermitteln, sah sie davon ab. Stattdessen tastete sie ein weiteres Mal nach dem Band. Zunächst glaubte sie, es würde wieder nichts geschehen, doch dann war da plötzlich ein Gefühl der Wärme, das nichts mit dem Fieber der letzten Zeit gemein hatte. Da wusste sie, dass er noch immer da war. Sie fragte sich, ob es möglich wäre, ihn auf diesem Weg auf sich aufmerksam zu machen. In der Bibliothek war es ihr gelungen, sich so stark auf ihn zu konzentrieren, dass er sich zu ihr umgewandt hatte. Damals war er nur wenige Meter entfernt. Diesmal trennten sie einige Meilen. Nach dem Band zu greifen, war anstrengend, dennoch versuchte sie es immer wieder. Als sie es schließlich fand, tastete sie sich daran entlang, in der Hoffnung, jeder verstreichende Augenblick würde sie näher zu ihm führen. Tatsächlich schien die Wärme an Intensität zu gewinnen – ehe sie schlagartig erlosch. Erschöpft sank Alexandra in die Kissen zurück, fest entschlossen, neue Kräfte zu sammeln, um es später noch einmal zu versuchen.
Als es kurz nach Mittag klopfte, glaubte sie schon, es wäre eine der Schwestern, die sie auffordern wollte, ihren Mittagsschlaf zu halten. Stattdessen kam Gavril zur Tür herein. Sein Mantel war nass vom Regen, ebenso wie sein Haar.
»Störe ich?«
Alexandra schüttelte den Kopf. Er legte den Mantel ab, zog sich den Stuhl heran und setzte sich. »Vladimir und Mihail sind heute Morgen nach Glasgow aufgebrochen«, erklärte er. »Es sieht ganz danach aus, als hätten sie eine Spur des fehlenden Fragments gefunden.«
Lucian war auf dem Weg nach Glasgow? War es deswegen so schwer, das Band zu fassen zu bekommen? Ist er … Es fiel ihr schwer, den Gedanken zu beenden … . tatsächlich gegangen? Alexandra verzichtete darauf, Gavril zu fragen, wie viel er über Vladimirs Vorhaben wusste. Er mochte ihr Leben gerettet haben, doch was Lucian anging, standen sie auf unterschiedlichen Seiten. »Wie lange werden sie fort sein?«
»Solange es dauert.« Gavril zuckte die Schultern. »Ein paar Tage, vielleicht auch ein oder zwei Wochen.«
»Warum haben sie dich nicht mitgenommen?« Es erschien ihr eigenartig, dass Vladimir und Mihail die Stadt verließen, während Gavril zurückblieb. Die Jäger hatten sich noch nie getrennt. Warum jetzt?
»Ich soll hier die Augen offen halten – für den Fall, dass Vladimir sich geirrt hat.«
Vladimir hat also nicht nur sein Auftreten, sondern auch sein Vorgehen geändert. Früher wäre es undenkbar gewesen, dass er zugelassen hätte, dass sie sich trennten. War er derart besessen von dem Wunsch, Lucian zur Strecke zu bringen, dass er sich nicht länger um die Sicherheit seiner Kameraden scherte?
»Zumindest kann ich mich, solange die beiden fort sind, besser um dich kümmern.«
»Dann willst du dich also nicht auf die Suche nach Lucian machen?«
»Das habe ich mich auch gefragt – schon den ganzen Morgen.« Er fuhr sich durch das nasse Haar, bis es ihm in kurzen dunklen Strähnen vom Kopf abstand. »Aber wozu? Würde Vladimir nach Glasgow gehen, wenn er glaubt, dass der Vampyr und das fehlende Fragment noch immer hier sind? Wohl kaum. Deswegen dachte ich, ehe ich meine Zeit mit einer ohnehin sinnlosen Suche verschwende, nutze ich lieber die Gelegenheit und sehe nach dir.«
Alexandra wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Er hatte ihr das Leben gerettet, und dafür war sie ihm dankbar. Aber jede Minute, die er in ihrer Gesellschaft verbrachte, würde ihn nur daran erinnern, dass sie für ihn nie das sein konnte, was er in ihr sah. Womöglich wäre es besser, wenn er ginge und nicht mehr zurückkam. Sie setzte mehrmals dazu an, ihm das zu sagen, doch sie brachte es nicht über sich.
»Weißt du, was ich nicht verstehe, Alexandra?«, fragte er unvermittelt. »Es will mir einfach nicht in den Kopf, warum du dieser Kreatur geholfen hast. Nach allem, was Vampyre dir angetan haben, beschützt du ausgerechnet einen von ihnen!«
Es ist noch viel schlimmer, als du annimmst. Wenn ihr vor zwei Monaten jemand gesagt hätte, dass sie einmal einem Vampyr helfen würde, hätte sie denjenigen ausgelacht. Hätte ihr jemand gesagt, dass es sich dabei um einen Vampyr handelte, der dem Mörder ihrer Familie aufs Haar glich, hätte sie ihn für geisteskrank befunden. Doch genau das war geschehen, und Gavril hatte nicht die geringste Ahnung. Keiner der Jäger hatte den Unendlichen je zu Gesicht bekommen. Wenn sie gewusst hätten, wie der Erste Vampyr aussah, hätten
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