Die Wiedergeburt
Moment dachte sie, dass Gavril genau das vorhatte – sie aufzuhalten, bis sie den anderen in die Hände fielen. Doch das würde er nicht tun. Er wollte seinen Bruder zurück! Allein aus diesem Grund würde er ihnen helfen.
»Ich glaube, das erste Mal ist es mir an dem Morgen aufgefallen, als du uns in deiner Pension entkommen bist«, sagte er endlich.
Lucian sah auf. »Das war auch der Zeitpunkt, an dem Sie und Ihre Kameraden in den Besitz des Kreuzes gelangt sind, nicht wahr?«
Gavril nickte. »Vladimir hat es an sich genommen, nachdem … nachdem uns Alexandra entwischt war.«
Nachdem Lucian mich vor euch gerettet hatte.
»Ich denke, es besteht kein Zweifel daran, dass die Veränderung Ihres Bruders in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kreuz steht«, setzte Lucian seinen Gedankengang fort. »Die Frage ist nur, warum Andrej nicht schon viel früher wieder in Erscheinung getreten ist? Warum hat er nicht versucht, von Alexandra Besitz zu ergreifen?«
Natürlich! Warum war sie nicht schon viel früher draufgekommen? »Ich hatte den Splitter erst wenige Stunden zuvor herausgelöst. Womöglich wurde dadurch eine Art Barriere aufgehoben, die den Unendlichen gefangen hielt.« Sie runzelte die Stirn. »Allerdings verstehe ich nicht, wie er überhaupt mit dem Kreuz verbunden sein kann. Er starb nicht einfach, er wurde vernichtet. Ich habe gesehen, wie er zu Staub zerfiel. Wie kann das sein?«
»Ich habe einmal gehört, dass eine Essenz bleiben kann«, begann Gavril zögernd. »In manchen altertümlichen Kulten glaubte man, dass diese Essenz imstande sei, in Gegenstände oder auch Menschen zu fahren. Auf dieser Annahme fußt auch der Glaube unserer Kirchen, dass Menschen vom Bösen besessen sein können – von der Essenz Verstorbener, die in sie dringen und die Kontrolle über ihr Handeln übernehmen. Dafür gibt es den Exorzismus.«
Alexandra schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass wir mit einer reinen Austreibung weit kommen werden. Der Unendliche wird sich dann lediglich einen neuen Wirtskörper suchen – womöglich einen, von dem wir nichts wissen. Aber ich verstehe noch immer nicht, warum der Unendliche nicht in mich gefahren ist.«
»Du hattest den Splitter«, sagte Lucian. »Vielleicht hat dich das vor ihm geschützt.«
Das klang plausibel. »Die Frage ist nur, wie können wir ihn vernichten?«
»Es hat einmal mit dem Kreuz geklappt«, sagte Bothwell, »dann wird es das auch ein zweites Mal.«
Gavril sprang auf. »Niemand wird meinen Bruder töten!« Er wollte auf Bothwell losgehen, doch Lucian und Alexandra vertraten ihm gleichzeitig den Weg.
Alexandra legte ihm eine Hand auf die Brust und hielt ihn zurück. Die Bewegung ließ den dumpfen Schmerz in ihrer Seite erneut aufflammen. Eine deutliche Warnung, dass sie sich für heute genug zugemutet hatte – dennoch blieb ihr keine Zeit, sich auszuruhen. »Hör auf!«, ermahnte sie ihn. »Lass uns lieber überlegen, welche Alternativen es gibt!«
Nur widerwillig kehrte Gavril zu seinem Platz zurück, ohne sich jedoch zu setzen.
»Womöglich ist Andrejs Essenz noch immer an das Kreuz gebunden«, überlegte Lucian. »Wenn wir es zerstören, vernichten wir damit vielleicht auch ihn.«
»Vielleicht?« Alexandra schüttelte den Kopf. »Das ist mir entschieden zu wenig. Abgesehen davon geht das nicht!«
»Warum nicht?«
»Himmel, Lucian!«, rief sie entsetzt. »Du kannst das Kreuz doch nicht einfach auf einen Verdacht hin zerstören! Was, wenn dein Bruder gar nicht daran gebunden ist und ihm dabei nicht das Geringste passiert? Dann haben wir die einzige Waffe zerstört, mit der wir etwas gegen ihn ausrichten können! Abgesehen davon weißt du, was passiert, wenn …« Lucian würde alles daransetzen, seinen Bruder zu vernichten – selbst wenn er dabei seinen eigenen Tod riskierte. Eine Mischung aus Erschöpfung und Ernüchterung überkam Alexandra.
»Wir brauchen also etwas, das den Unendlichen vernichtet und dabei diesem Vladimir kein Haar krümmt«, überlegte Bothwell laut. »Wenn ihr mich fragt, ist das nicht möglich.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Lucian zu Alexandras Erstaunen und wandte sich an Gavril. »Sind Sie bereit, uns zu unterstützen?«
»Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie Vladimir nichts antun werden?«
»Mein Wort darauf.«
Sein Versprechen schnürte Alexandra die Kehle zu.
Gavril zögerte. Er schien darüber nachzudenken, wie viel das Wort eines Vampyrs wert sein mochte. Schließlich nickte er. »Also gut.
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