Die Wiederkehr des gefallenen Engels
Kuss. Die düsteren Gedanken vergingen nicht, aber sie waren in den Hintergrund gedrängt worden. Dorthin, wo Lara mit ihnen umgehen konnte.
Ihre Hände legten sich um sein Gesicht, hielten es. »Tust du mir einen Gefallen, Damian?«
»Alles, was du willst.«
»Würdest du mit mir beten?«
»Ich habe schon lange nicht mehr richtig gebetet.«
Sie lachte hell auf. »Ein Engel, der nicht betet. Ich hätte nicht gedacht, dass es so etwas gibt.«
Er grinste. »Was soll ich sagen?«
Sie antwortete nicht, sondern nahm seine Hände und faltete sie. Dann schloss sie die Augen. Ihre Stimme war fest, als sie sprach.
Vater unser, der du bist im Himmel …
Damian flüsterte die Worte leise mit. Es war ein Gebet der Menschen, ihnen von Gottes Sohn gegeben, damit sie über ihn zum Schöpfer finden konnten. Er hatte dieses Gebet noch nie gesprochen, so wie er seit Äonen überhaupt keine Gebete gesprochen, sondern nur Satan gehuldigt hatte. Die Worte berührten seine Seele. Er spürte, wie eine einzelne Träne seine Wange hinablief, aber er wischte sie nicht weg.
Das Gebet gab ihm Kraft und Zuversicht. Gott war bei ihnen. Sie konnten auf ihn vertrauen.
Er schaute Lara an. Sie schlug die Augen auf und erwiderte seinen Blick. Auch ihr hatte das Gebet geholfen, denn ihre Miene wirkte nicht mehr so angespannt.
»Mit dir zu beten, war schön.«
Ihr Finger fuhr die Spur der Träne in seinem Gesicht nach.
»Bist du traurig?«
»Nein, ich habe mich nur erinnert.«
Mit einer Kopfbewegung forderte sie ihn auf weiterzusprechen.
»An die Zeit vor dem Fall, vor dem großen Krieg, als wir alle Gott auf die gleiche Weise dienten.«
»Es muss wundervoll gewesen sein.«
»Das war es.«
»Kannst du mir etwas über meinen Vater erzählen. Er war doch auch einmal ein Engel.«
»Der schönste von allen, von Gott geliebt, von den anderen Engeln bewundert. Seine Klugheit war einzigartig, sein Geist vollkommen. Er war groß, aber sein Stolz war noch größer. Schließlich erhob er sich gegen den Willen des Herrn und er wurde in den tiefsten Schlund der Hölle geworfen. Dort herrscht er nun seit undenkbar langer Zeit über seine gefallenen Brüder und die zu Dämonen gewordenen Menschen.«
»Ist er grausam?«
»Satan kann man nicht mit derartigen Maßstäben belegen. Er handelt, wie es ihm gefällt, die Frage stellt sich nicht. Nicht für ihn, für niemanden. Er ist der Herrscher über seine Welt. Sein Wort ist Gesetz, wer sich nicht bedingungslos unterwirft, stirbt.«
»Ja, aber du kennst ihn besser als die anderen. Du warst sein Vertrauter. Auf den Fotos, die ich bei meinen Großeltern gefunden habe, seid ihr beide abgelichtet. Du musst so etwas wie ein Freund für ihn gewesen sein.«
»Nein«, widersprach er vehement. »Lara, so ist es nicht. Du betrachtest alles durch die Augen eines Menschen, aber Satan kann man nicht begreifen. Ich war nicht sein Vertrauter, denn Satan vertraut niemandem, und ich war auch nicht sein Freund, derlei Gefühle kennt er gar nicht. Er empfindet Wut, Zorn und ist erfüllt von Rachegedanken. Alle anderen Empfindungen sind nicht vorhanden. Ich war genauso … bis ich …«
»Bis du mich kennengelernt hast«, vollendete Lara den Satz.
»Ja, bis ich dir begegnet bin. Ich lernte zu lieben. Eine ganz unerwartete Empfindung. Mitgefühl für andere zu haben. Die schwarze Wut, die in mir tobte, verschwand und das Wissen, ein Teil der göttlichen Ordnung zu sein, erfüllte mich. Vieles von dem war mir damals in Berlin noch nicht klar. Ich habe nur den Gedanken gehabt, dich zu schützen, aber meine Liebe zu dir hat mich auch wieder auf den rechten Pfad zurückgeführt. Nun fühle ich wie ein Mensch, kenne Freude und Leid.« Er nahm ihre Hände in seine. »Aber vor allem erlebe ich die Liebe. Durch dich. Es ist mehr, als ich je zu hoffen gewagt hätte.«
Die Durchsage des Zugführers, dass man in wenigen Minuten den Stuttgarter Hauptbahnhof erreichen werde, unterbrach ihn.
Sie sahen sich kurz an, dann erhoben sie sich. Lara fasste nach seiner Hand. Gemeinsam gingen sie auf den Gang hinaus.
38.
Der Stuttgarter Bahnhof war so ganz anders als Rottenbach. Diese Stadt schlief nicht. Trotz der frühen Stunde waren schon viele Menschen unterwegs. Die meisten hasteten zu ihren Zügen oder verließen diese auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle. Bleiche Gesichter in dunklen Anzügen oder Mänteln.
Lara und Damian hatten die Bahnsteige verlassen und waren in die große Halle gelangt. Sie brauchten Zugfahrtickets
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