Die Wiege des Bösen
Lebens.
Als er nach unten ging über die schweigenden Treppen, durch die dunklen, stummen Hallen des Tempels, umfing ihn die Schwärze wieder, klammerte sich um seinen Geist und um sein Herz.
Doch Thonensen hatte in der Gefangenschaft des Xandors genug über die Kräfte der Finsternis gelernt, um nicht die Gewalt über sich zu verlieren und in dieselbe unmenschliche Gleichgültigkeit zu verfallen wie die Akolythen und Unterpriester, die wie Tote durch den Tempel wandelten.
Er verließ den Tempel, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte. Parthan wußte nichts über den Magier. Er sah in ihm nur einen Weisen aus einem fernen Land, über das er wenig wußte. Man begegnete nicht oft Menschen aus den Eislanden. Der Magier hatte ihm nicht den Namen Thonensen genannt, denn viele kannten den einstigen Sterndeuter und Leibmagier der anbruischen Provinz. Und Parthan mochte vielleicht auch wissen, daß Thonensen zuletzt Amorats Sklave gewesen war. Er mochte vielleicht auch wissen, daß Thonensen und Mythor einst gemeinsame Sache gemacht hatten.
So nannte der Magier sich Stennrwijkk, was ein geläufiger Name in den Eislanden war, und berichtete, daß er Maer O’Braenn in Tainnia begegnet war und ihm seine Künste der Magie angeboten habe, die dann im Meer der Spinnen zur Ausführung gekommen seien. Parthan machte kein Hehl aus seiner Neugier, wie es dem Magier gelungen war, die Ungeheuer zu zähmen. Und Thonensen konnte ihn eine Weile hinhalten mit vagen Erklärungen und dem Versprechen einer Vorführung an Ort und Stelle.
Doch Parthan wollte erst mit seinen Gefangenen nach Gianton. So blieb keine Zeit mehr für einen Befreiungsversuch im Tempel. Aber die Chancen wären ohnehin sehr gering gewesen. Sie würden in Gianton nicht besser sein, aber auf dem Weg dahin mochte sich eine Möglichkeit ergeben.
Natürlich war es möglich, daß der Priester ihn längst durchschaut hatte und nur mit ihm spielte, aber er würde ihm das Spiel bald vergällen.
Er fürchtete Parthan nicht, aber er fürchtete um Nottrs Leben und das seiner Gefährten. O’Braenn und die anderen konnten nichts mehr für sie tun. Es lag nun alles bei ihm.
Er sah Lady Lydia in Begleitung ihres kahlköpfigen Leibwächters herankommen. Er wußte nicht, wie Parthan und Lydia von Ambor hinter ihren Masken wirklich zueinander standen, aber er hatte gesehen, daß sie nicht ungeschickt mit der Macht umging, die sie besaß. Sie machte durch Intrigen wett, was ihr an magischen Kräften fehlte. Er wußte, daß er vorsichtig sein mußte, wenn er sich mit ihr einließ. Sie steckte voller gefährlicher Ideen, war machthungrig, und es schien wenig zu geben, vor dem sie zurückschreckte.
Wer Furcht vor ihr hatte, war von Anfang an der Verlierer. Und wer ihren geschickt zur Geltung gebrachten Reizen verfiel, nicht minder. Aber sowohl Furcht als auch Verlangen waren Empfindungen, die Thonensen zugunsten der Weisheit hinter sich gelassen hatte. Er war verwundbar nur durch Gewalt, und das lauernde, raubtierhafte Gesicht Numirs an ihrer Seite sagte ihm, daß sie auch dazu bereit war.
»Master Stennrwijk«, sagte sie und nickte grüßend. Es fiel ihr nicht leicht, den Eisländernamen auszusprechen, aber sie gab sich redlich Mühe, was wohl bedeutete, daß sie Absichten irgendwelcher Art hatte, die ihn einschlossen.
Er erwiderte ihren Gruß mit leichtem Nicken. »Lady Lydia.«
»Mir ist Euer Interesse an den Gefangenen nicht entgangen«, sagte sie. Es gab nicht viele, die sie in solch höflicher Weise anredete, denn das formelle Ihr war das Zugeständnis des gleichen Ranges und Standes.
Thonensen sah sie stumm an.
»Auch ich habe ein Interesse… wenigstens an einem von ihnen… Nottr…«
»Verzeiht, Lady«, sagte Thonensen. »Ich habe andere Pläne…«
Numirs Augen blitzten zornig auf. Die Prinzessin berührte ihn beruhigend.
»Wenn die Schlange auskriecht, sollten die Hasen klug sein«, sagte sie. »Man weiß nie, wie lange sie fortbleibt.«
Thonensen zögerte.
»Es bleibt nicht viel Zeit«, fuhr sie drängend fort. »Seine Hohe Würdigkeit hat ein erstaunliches Interesse an diesem Barbaren und plant etwas Besonderes. Ich kenne ihn. Er kümmert sich sonst nie selbst um die Gefangenen, die in die Schmieden kommen…«
»Was schlagt Ihr vor?«
»Ich brauche Euch, und Ihr braucht mich, Master Stennrwijk. Ich kann Euch nach Gianton bringen, ohne daß Ihr Mißtrauen erregt… als meinen Gast. Mir stehen viele Türen offen. Deshalb braucht Ihr mich. Und ich brauche
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