Die Wiege des Windes
Wenn er richtig vermutete, dann waren an Bord Männer, die bereits zwei Menschenleben auf dem Gewissen hatten, drei beinahe, wenn man Töngen hinzuzählte, der noch immer im Koma lag. Verdammt, wenn er nur verbindlich wüsste, dass Onno Behrend auf der Insel wohnte, dann wäre es keine Frage, was zu tun war. Trevisan klopfte nervös mit den Fingern auf den Schreibtisch. Diesmal wollte er unter keinen Umständen zu spät kommen. Er atmete noch einmal tief durch, dann griff er zum Telefon.
*
Bessere Verhältnisse hätten sie gar nicht vorfinden können. Das Haus lag am Ende des Dorfes, nahe dem Strand. In der Nähe befand sich nur das Kinderkrankenhaus, und das lag mindestens hundert Meter entfernt. Dazwischen türmten sich ein paar bewachsene Dünen. Außerdem war Behrends Grundstück nahezu rundherum umrahmt von Buschwerk. Strategisch hervorragende Voraussetzungen für ihren Plan.
Sie waren fünf. Einer stand vor dem Haus, die anderen hielten sich an der Strandpromenade auf. Von dort aus würden sie ihren Angriff starten. Die Schalldämpfer würden größeren Aufruhr verhindern. Ein alter Mann und ein Mädchen, was sollte schon schief gehen. Viktor Negrasov plante nicht mehr als zehn Minuten für das Kommandounternehmen ein. Am schwierigsten würde es werden, das gesuchte Material zu finden, deswegen mussten sie das Mädchen lebendig in die Hände bekommen. Ein kleines Feuer würde dann den Einsatz beschließen. Verbrannte Erde erschwerte die Spurensuche der Polizei.
Negrasov trug einen schwarzen Overall, schwarze Stiefel und Handschuhe. In seiner Tasche steckte eine schwarze Sturmhaube, die nur die Augen freilassen würde. Standardausrüstung für Nachteinsätze. So wie damals in Afghanistan, als er Kommandounternehmen in den Bergen um den Kundus geleitet hatte. Alle seine Einsätze waren erfolgreich gewesen, nur drei Mann aus seiner Eliteeinheit hatte er über die gesamten Jahre verloren. Er bedauerte, dass er seine Männer nicht zur Verfügung hatte, sondern sich auf den Österreicher, seinen ungarischen Kumpel und die beiden Landsmänner von der Sigtuna verlassen musste.
Er schaute auf seine Uhr. Ein russisches Fabrikat, das speziell für die Armee hergestellt worden war. Sie war über zwölf Jahre alt, aber sie ging noch immer genau. Wenn nur alles im Leben so zuverlässig wäre, dachte er, als er den Einsatzbefehl gab.
Es war fünf nach zehn und die mondlose Nacht würde ihren Plan noch ein weiteres Stück begünstigen.
*
Den ganzen Tag hatte Onno wie besessen am Schreibtisch Pläne gezeichnet. Berge von zerknülltem Papier türmte sich im und mittlerweile auch neben dem Papierkorb. Doch bislang hatte er keinen wesentlichen Fortschritt gemacht.
Rike hatte den Tag damit verbracht, jedes Zimmer mehrfach zu überprüfen. Sie bereute, dass sie einer weiteren Nacht in diesem Käfig zugestimmt hatte. Sie musste nicht bei Verstand gewesen sein, zu denken, sie könne es mit diesen Bestien aufnehmen. Sie spürte, dass ihre Kraft schwand. Sie stürzte ihrem Tiefpunkt entgegen und dieser Tiefpunkt hatte einen ganz einfachen Namen: Angst, abgrundtiefe Angst.
Trotz ihrer waghalsigen Unternehmungen in den vergangenen Jahren, trotz ihrer Ausbildung in Selbstverteidigung, trotz der Waffe in ihrer Hand zitterte sie. Angespannt horchte sie in die beginnende Nacht. Sie fuhr herum. Onno polterte die Treppe hinunter. In der Stille wirkten seine Schritte wie Donnerhall.
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, die haben die Windgeschwindigkeiten gemessen. Es sind die einzigen Werte, die eine Logik ergeben. Spitzenwerte und Durchschnittswerte.«
»Und wie kommst du darauf?«, antwortete Rike.
»Was sollte man sonst draußen auf dem Meer vermessen«, antwortete Onno. »Die Tiefenmaße, die geographische Lage, die Abstände, Längenmaße. Da fehlten eigentlich nur noch die meteorologischen Daten. Ich habe einen Segelatlas gewälzt. Dort werden solche Werte auch beschrieben. Es sind Windgeschwindigkeiten in Kilometer pro Stunde.«
»Gut, nehmen wir an, es ist so. Welchen Sinn ergibt …«
Das Knacken, das durch den Gang herüberwehte, war ein fast nicht wahrzunehmendes Geräusch. Es hatte einen gewissen Rhythmus, fast so, als ob Wassertropfen auf Metall fielen.
Rike umklammerte die Waffe. Sie kamen. Onno schaute auf und gab ihr Zeichen, dass sie ihm nach oben folgen solle.
»Und was, wenn es die Polizei ist?«, flüsterte Rike kehlig.
»Die Polizei bricht nirgendwo ein.«
»Ich habe Angst«, sagte Rike. »Ich bin
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