Die Wiege des Windes
und schaute in Richtung Westen. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann war das drüben bei Lütje Horn Michaelis, der mit seinem neuen, modernen Krabbenfischer schon um sieben Uhr hinausgefahren war.
»Haben wir hier draußen auch Empfang?«
Die Frage des Österreichers, der ein Handy in der Hand hielt, riss Corde aus seinen Gedanken. »Bis rauf nach Scharhörn schon, nur wenn wir über Helgoland wieder zurückfahren, gibt es für ein paar Meilen ein Funkloch. Der Schiffsfunk ist aber immer in Betrieb.«
Rösch nickte. »Dann ist es ja gut«, murmelte er, ehe er wieder hinter dem Ruderhaus verschwand. Corde blickte wieder über das Bug. Trotz der Aussicht auf ein gutes Geschäft hatte er aus einmal ein ungutes Gefühl. Nur warum, das konnte er sich nicht erklären.
*
Rike saß im Schneidersitz auf dem Sofa, den Kopf im Nacken. Die Sonnenstrahlen fielen durch die kleinen Scheiben in die Stube, strichen über den Boden, streiften das Sofa und wärmten ihren Körper. Sie hielt ihre Augen geschlossen.
»Was wirst du tun, wenn das alles hier vorbei ist?«, fragte Onno und stellte seine Teetasse zurück auf den Tisch.
Rike seufzte. »Jetzt sitz ich schon seit Tagen hier und wir kommen keinen Schritt voran.«
Onno erhob sich und ging zum Fenster. »Manche Dinge brauchen eben Zeit«, sagte er sanft.
»Aber Zeit haben wir nicht. Ich kann nicht immer wie eine Gefangene im Haus bleiben und ich will es auch nicht. Lieber stelle ich mich der Polizei. Manchmal erscheint mir alles, was wir hier machen, sinnlos.«
»Mensch, Mädchen, hab Geduld. Es ist zu früh, um zu resignieren.«
Rike blickte zu Boden. »Ich glaube, in mir hat schon längst etwas aufgegeben. Ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Ich weiß, dass die ganzen letzten Jahre reine Verschwendung waren. Ich gehe auf Exkursionen zur Rettung der Wale, friere mir im Südpolarmeer meine Finger ab und alles ist umsonst. Genau wie mit Larsen. Wer interessiert sich schon dafür, ob da draußen Seehunde auf den Bänken liegen oder Vögel brüten? Wir wurden immer schon als Spinner angesehen. Wer ewig das gleiche Klagelied anstimmt, wird irgendwann zum Pausenclown.«
Onno trat hinter das Sofa und legte ihr seine Hände auf die Schultern. »Es hat sich viel getan in letzter Zeit. Seit der Umweltbewegung haben so manche Politiker umgedacht und die Grünen sind fast überall in den Gremien vertreten. Leute wie du und Larsen haben dafür gesorgt, dass die Menschen wieder mit offenen Augen durch die Welt gehen. Sicher, sie gehen in manchen Dingen nicht weit genug, aber sie lernen dazu. Erinnere dich an die Atomkraft, das große Wunder, das uns alle Energiesorgen nimmt. Und heute? Jeder weiß, dass sich das große Wunder, der große Segen zu einer großen Katastrophe ausweiten kann. Die Menschen sind schlauer geworden. Wir können durch unser Zureden nur zum Kurswechsel animieren, das eigentliche Umdenken muss von innen erfolgen. Selbsterkenntnis, verstehst du?«
Rike nickte. Tränen liefen über ihre Wangen.
»Du hast ihn geliebt?«, fragte Onno.
Rike schüttelte den Kopf. »Es waren schöne Zeiten und wir eine gute Truppe. Es sind nur wenige übrig geblieben. Töngen hat seine Schafe und der Rest der Freunde hat sich in alle Winde zerstreut. Jetzt ist auch noch Larsen tot. Ich stehe manchmal auf und weiß überhaupt nicht warum.«
»Einsamkeit ist schwer zu ertragen, vor allem, wenn man sich nicht gebraucht fühlt. Ich kenne das.« Onno streichelte ihr zärtlich über das Haar. Sie ergriff seine Hände und hielt sie fest.
*
Trevisan hatte gewartet, bis der Zug abgefahren war. Er hatte alle Kraft gebraucht, damit er vor Paula keine Tränen vergoss, doch nachdem die Türen zugefallen waren und sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, gab es kein Halten mehr. Er zog sich in eine stille Ecke zurück und weinte.
Die darauf folgende Nacht war besonders schlimm gewesen, Alpträume rissen ihn mehrmals aus dem Schlaf. Als er um halb acht die Dienststelle betrat, fühlte er sich ausgelaugt und gerädert. Sein Kopf schmerzte und seine Gedanken kreisten um seine Tochter. Im zweiten Stock angekommen, durchstreifte er die Abteilung. Er war alleine. Zuerst kochte er sich Kaffee, nahm ein Glas Wasser und löste darin eine Kopfschmerztablette auf. Er ließ sich auf seinen Stuhl sinken und stützte den Kopf auf die Hände. Mehrere Minuten verharrte er regungslos im Dämmerzustand. Das Blubbern der Kaffeemaschine verstummte. Die Kanne war voll. Trevisan erhob sich und schenkte sich
Weitere Kostenlose Bücher