Die Wiege des Windes
eine Tasse ein. Sein Blick streifte den Spiegel und er erschrak. Er sah aus wie ein uralter Mann. Seine Haare fielen ihm wirr auf die Stirn, in seinem Gesicht zeigten sich neue Falten und das Kinn war stoppelig. Die Morgentoilette war dürftig ausgefallen. Zum Glück hatte Trevisan immer einen Rasierapparat in der Schublade seines Aktenschranks. Er nahm das altertümliche Gerät heraus und steckte den Stecker in die Steckdose. Das Brummen des Apparates klang beinahe wie ein Kompressor. Die Kopfschmerzen flackerten wieder auf.
Als Trevisan erneut einen Blick in den Spiegel warf, erschrak er und fuhr herum. Ein Mann stand hinter ihm. Ein junger Mann in modischer Lederhose und einem beigen Rollkragenpulli. Der Fremde war um die fünfundzwanzig Jahre alt und wirkte wie ein Modell, das dem Otto-Katalog entsprungen war. Dunkle, volle Haare, ein scharf geschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht, Muskeln und ein Waschbrettbauch, auf den jeder Mittdreißiger unter Garantie neidische Blicke warf.
»Wer sind Sie?«, fragte Trevisan überrascht.
Der junge Mann wirkte verlegen. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, entschuldigen Sie, aber ich soll mich hier melden.«
»Da fallen Sie gleich mit der Tür ins Haus?« Trevisan legte den Rasierapparat auf das Waschbecken und musterte den Fremden ausgiebig. Die Augen wirkten wach und aufmerksam.
»Die Tür stand offen, ich habe geklopft, aber Sie haben mich offenbar nicht gehört. Mein Name ist Alexander Uhlenbruch«, sagte der Fremde. »Ich bin ab heute zum 1. Fachkommissariat versetzt. Sie sind Herr Trevisan?«
Trevisans Züge entspannten sich. »Ach – der Neue! Nehmen Sie Platz.« Er wies auf die Couchecke. »Wollen Sie einen Kaffee?«
Uhlenbruch nickte und setzte sich in den Sessel, den meist Trevisan bevorzugte.
»Sie kommen vom LKA?«
»Geboren 1971 in Lüneburg, Einstellung 1988. Von 1991 bis 1993 Streifendienst auf dem Revier Lüneburg, anschließend Kommissarlehrgang in Hann, Kriminalpolizeilicher Lehrgang im Anschluss und nach Abschluss 1996 zum LKA in die Fahndungsabteilung versetzt. Dort verschiedene Abteilungen durchlaufen, zuletzt bei der Zielfahndungsabteilung tätig.«
Trevisan nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »Wir können gute Leute gebrauchen«, antwortete er auf den stereotypen Vortrag. »Sie wohnen in Lüneburg?«
Alex Uhlenbruch schlug die Füße übereinander. »Ich habe mir hier eine kleine Apartmentwohnung gemietet.«
»Das ist gut«, antwortete Trevisan. »Wir arbeiten oft bis spät in die Nacht.«
»Das bin ich gewohnt.«
Es klopfte an der Tür. Johannes Hagemann trat ein, und Alex Uhlenbruch erhob sich. »Das ist der Neue«, erklärte Trevisan. »Alex Uhlenbusch vom LKA, ab heute bei uns in der Provinz.«
»Uhlenbruch«, berichtigte der junge Mann und streckte Johannes mit breitem Lächeln die Hand entgegen.
»Hagemann. Freut mich.« Johannes zog ein Papier aus der Tasche und reichte es Trevisan. »Antwort aus Schweden.«
»Die Sigtuna wurde vom Institut für Umwelt- und Klimaforschung ITATAKA aus St. Petersburg längerfristig gechartert. Für weitere Rückfragen wenden Sie sich bitte an das Institut selbst«, las Trevisan auf dem Telex der schwedischen Polizei in Stockholm. »Das ist alles?«
»Mehr habe ich nicht bekommen«, antwortete Johannes.
»Hast du überhaupt nach mehr gefragt?«, fragte Trevisan sarkastisch.
Johannes Hagemanns Gesicht nahm einen rötlichen Ton an. »Hör zu, ich bin kein Frischling mehr. Die Zusammenarbeit mit den Ausländern ist nicht immer so einfach.«
Trevisan schlug die Hände vor das Gesicht. »Tut mir leid. Ich bin heute offenbar nicht gut drauf. Entschuldige.«
»Schon gut«, erwiderte Johannes. »Wie machen wir weiter?«
Trevisan musterte Alexander Uhlenbruch, der noch immer stand und die Unterhaltung aufmerksam verfolgte. Trevisan wies auf den Sessel und gab auch Johannes ein Zeichen, Platz zu nehmen. Dann erzählte er Uhlenbruch vom aktuellen Fall Larsen. Er erzählte vom Leichenfund, von Kirner, den Alex Uhlenbruch kannte, weil er ein halbes Jahr in dessen Abteilung gewesen war, vom Briefbombenanschlag auf den stellvertretenden Bezirksdirektor, von Kirners Verdacht gegenüber der immer noch flüchtigen Friederike van Deeren und vom erneuten Mordversuch an Doktor Esser. Von Töngen, dem Anschlag und von dem Kutterkapitän Corde. Alexander Uhlenbruch hörte gebannt zu.
»… und deshalb tappen wir noch im Dunkeln und suchen noch immer nach den Hintergründen«, beendete Trevisan seinen
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