Die wilde Gärtnerin - Roman
die Menge der Scheiße?«
Sie nickt.
»Darauf kommt es nicht an. Es bleiben sowieso nur dreißig Prozent übrig, der Rest vertrocknet.«
»Und worauf kommt es an?« Sie wartet konzentriert auf meine Antwort. Wieder hängt dabei eine Schulter tiefer als die andere. Vielleicht ist ihre Körperhaltung nicht Zeichen einer Belastung, sondern tiefster Konzentration? So wie andere Leute sich am Kopf oder am Kinn kratzen.
»Auf die Qualität kommt es an.« Lasse meine Worte wirken. Bin positiv überrascht, dass Berta sich bisher nicht mit Schamgrenzen aufhält, sondern beherzten Schrittes meine Gedankengänge betritt.
»Die Qualität des Humus oder der Erde?« Sie versucht meine Motivationsgründe nachzuvollziehen. Will meine Ideen hinter der Scheiße finden, was mich freut. Dabei zieht sie ihren Kopf so weit nach vor, als hätte ihr eine unsichtbare Hand einen schweren Sandsack in den Nacken gelegt.
»Auf die Qualität der Scheiße kommt es an. Stickstoff und Phosphor sind essenziell für andere Lebewesen. Aus Scheiße wird Erde, aus dieser Pflanzen und somit erneut Nahrung. Im Grunde sind wir alle nichts anderes als Koprophagen. Das Essen kann nur so gut sein wie die Scheiße, aus der es gewachsen ist.«
Eine Pause ist nun angebracht. Die zweite Stufe erklommen. Berta kommt nicht mit Oberflächlichem zu Geruchsbildung; Klopapierabfall oder Anrainerbeschwerden. Sie lässt Hygiene, Zivilisationskrankheiten und den Themenkomplex Kanalisation beiseite und springt gleich auf die letzte Sprosse der Reflexionsleiter. »Und wofür steht sie für
dich
?«
»Für unsere Existenzberechtigung.«
»Brauchen wir eine?« Es ist weniger eine Frage, als eine Bestätigung ihrer eigenen Überzeugung.
»Ich bin der Meinung, es gibt keinen Sinn im Leben. Aber wenn man unbedingt einen finden möchte, dann ist das einzig stichhaltige Ergebnis, dass wir Nahrungsgrundlage sind. Von unserem Mekonium bis ans Lebensende. Mit unserer Zersetzung sogar darüber hinaus. Wenn wir gut verdauen, werfen wir mehrmals täglich 100 bis 400 Gramm Scheiße pro Stuhlgang ab. Das ist im Kern betrachtet der Grund unserer Existenz.«
Berta schaut vor sich auf den Boden. Betrachtet sie ihn jetzt mit anderen Augen? Sie ist »konzentriert«, wäre ein zu harmloser Ausdruck für ihre geistige Tätigkeit, »gedankenverloren« zu poetisch, »in Kopfarbeit verstiegen« passt exakt. Was mich an ihrer Versunkenheit am meisten freut → wusste von meiner ersten Beobachtung an, dass sie mich verstehen würde.
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
[...] Berta? Ja, eine Berta kenn ich. Also, kennen ist zu viel gesagt, Helen hat mir einmal eine junge Frau namens Berta vorgestellt. Das muss so Mitte, Ende Februar gewesen sein.
[...] Ich bin zu Helen, da ist auf einmal eine Fremde bei ihr in der Küche. Helen hat sich angeregt mit ihr unterhalten, das hat mich sehr überrascht. An das Bild der beiden in der Küche kann ich mich noch genau erinnern. Ich komm bei der Tür herein, sehe, wie Helen gerade mit erhobenen Armen zum Reden ansetzen will und wegen mir ihre Ausführungen stoppt. So expressiv hab ich sie schon seit Jahren nicht mehr erlebt. Wenn ich’s mir genau überlege, war sie zuletzt in der Volksschule so lebendig. Hoppala, hab ich mir gedacht. Wer ist das? Wie kommt die hier her? Und vor allem, wann hat Helen sie kennengelernt? Ich war natürlich verwirrt.
[...] Warum? Na, weil da auf einmal ein Gefühlscocktail in mir aufgewallt ist. Es hat so ausgesehen, als würde Helen diese Frau schon länger kennen. Seit wann, hab ich mich gefragt, und wie ist das vor sich gegangen? Helen sitzt seit einer Ewigkeit in ihrer Wohnung, ich besuche sie jeden Tag, wann hat sie da jemanden kennenlernen können? Dir ist was entgangen, hab ich mir gedacht, da muss was hinter deinem Rücken stattfinden. Helen hat eben ein Leben, von dem du nichts weißt, hab ich mir gesagt. ... Erst einige Zeit später hab ich diesem unangenehmen Gefühl in einer Reiki-Stunde nachgespürt. Empfindungen von Eifersucht, Hintergangen-worden-Sein, Verlust sind in mir hochgekommen. Für Sie mag das vielleicht esoterisch klingen, aber für mich war dieses Erlebnis äußerst verstörend. Wissen Sie, ich hab viele Jahre gebraucht, um meine Gefühlsregungen wahr- und ernst zu nehmen. Erst nach intensiver Auseinandersetzung bin ich draufgekommen, welche Angst hinter meiner Reaktion steckt. Nicht
ich
bin eine Stütze für Helen, wie ich immer angenommen habe, sondern
sie
ist eine Stütze für
mich
.
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