Die wilde Gärtnerin - Roman
und sie spielten nach wie vor in einem Farbfilm. Nur die Szenen, die während des Filmrollenwechsels anfielen, waren eher monochrom, und Erna war froh, dass die Kamera ausgeschaltet blieb. Sie schaute zu ihrer Tochter. Die trank heiße Schokolade. Senkte ihren Kopf, als wollte sie durch das dunkle Getränk hindurch auf den Grund des Häferls blicken.
Magda merkte die Bemühungen ihrer Enkelin. Sie selbst hatte heiße Schokolade auch immer geliebt. Ihr kam der Nachmittag mit ihrer Mutter im Café Korb in den Sinn. Sie strich über die regenbogenfarbene Brosche, die sie heute an ihrem Kleid trug. Wie gut die heiße Schokolade damals geschmeckt hatte, viel besser als heutige Kakaosorten. Magda hatte seit Kriegsende unterschiedliche Marken ausprobiert. Aber keine schmeckte auch nur annähernd so gut wie die, die sie 1915 getrunken hatte. Wahrscheinlich existierte dieses feine Kakaopulver gar nicht mehr. Das wird mit dem Kaiserreich untergegangen sein, dachte Magda. Es musste verschüttet und begraben unter verlorenen habsburgischen Handelsbeziehungen liegen. Magda seufzte und drückte auf ihr Haar im Nacken. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihrer Mutter auf den Kaiser gewartet hatte. Wie er endlich in seiner prächtigen Kutsche an ihnen vorbeigefahren war und aus dem Fenster gewinkt hatte. Magda hatte die Kutsche von damals erst unlängst in der Wagenburg gesehen. Sie hatte sie sofort wiedererkannt.
Plötzlich hob Hilde ihren Kopf. Ihr Kakaohäferl war leer. Sie lächelte Magda an. An Hildes Oberlippe hing ein Schokobärtchen. »Danke Oma, der war gut«, urteilte Hilde.
»Das arme Kind weiß gar nicht, was gute Schokolade ist«, dachte Magda und reichte ihr eine Serviette. »Freut mich, wenn’s dir schmeckt«, sagte sie.
Erna streichelte ihrer Tochter kurz über den Kopf. In letzter Zeit hatte sich das Kind verändert. Sie war nicht mehr so gewissenhaft wie früher, machte ihre Hausaufgaben nicht, vergaß ihre Schulhefte entweder in der Schule oder zuhause; jedenfalls waren sie häufig nicht an dem Ort, an dem sie sein sollten. Prüfte Erna den Stoff von Hildes nächster Schularbeit ab, verstummte ihre Tochter, schaute zu Boden, drehte ihre Schuhspitzen hin und her, als ob die ihr Wissen gestohlen hätten. Fragte Erna, weshalb sie nicht antwortete, zuckte Hilde ratlos mit den Schultern, als könnte sie sich ihr Verhalten selbst nicht erklären. Es war, als hätte sich ein Schalter in Hildes Kopf verstellt, der ihr Denkvermögen blockierte. Noch vor einem Jahr hatte es tadellos funktioniert. In der Volksschule hatte Hilde nie Probleme gehabt. Sie lernte gern, hielt ihre Schulsachen in Ordnung, bekam gute Noten. Seit dem Schulwechsel war sie wie ausgetauscht. Erna überlegte, ob ihre Tochter mit der Vielzahl an unterschiedlichen Lehrerinnen nicht zurechtkam. Ob Hilde ihre Volksschullehrerin vermisste. Oder ob sie der neue Schultyp überforderte. Oder ob sie nach ihr geriet und Lernen nicht ihre Sache war? Ihre Befürchtungen musste Erna allerdings für sich behalten. Nötige Förderkurse oder die Gefahr, das Schuljahr zu wiederholen, konnte sie vor Anton unmöglich zur Sprache bringen. Er würde sofort auf stur schalten.
»Wenn s’ das Gymnasium nicht schafft, muss s’ eben in die Hauptschul’. Wenn s’ zu blöd is, wird s’ zurückgstuft«, würde er sagen. Er konnte Hildes Probleme nicht als Begleiterscheinungen der Eingewöhnungsphase sehen. Hilde würde das erste Schuljahr niemals wiederholen dürfen, das erlaubte Anton nicht. Schaffte sie es nicht, empfände er das als persönliche Niederlage. Ein Versagen, das er ihr jahrelang vorwerfen würde.
Nach fünfzehn Ehejahren hatte Erna eine weitere ungute Eigenschaft an ihrem Mann entdeckt: Er war unerbittlich nachtragend. Er vergaß keine Kränkung – und ihn kränkte vieles. Selbst Dinge, die keineswegs mutwillig geschahen. Wie Schwierigkeiten nach einem Schulwechsel. Leider konnte es Anton bei einer einmaligen Kränkung nicht belassen. Jeder Vorfall, von dem er sich herabgewürdigt sah, wurde immer wieder vorgebracht, dem Verursacher in einer Endlosschleife vorgeworfen. Erna malte sich aus, wie er im Freundeskreis Hildes Schulprobleme nicht wie andere Eltern einfach unbesprochen ließ, sondern sie überlebensgroß auf die Gesprächsleinwand projizierte. Mit einem Zeigestab würde er auf Hildes wunde Punkte deuten und sagen: »Seht her, das ist meine Tochter. Sie ist faul, dumm und unfähig, deshalb musste sie nach einem Jahr das Gymnasium verlassen«.
Erna
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