Die wilde Gärtnerin - Roman
dachte sie. »Am Schlimmsten is der künstliche Darmausgang für sie.«
Erna verzog ihr Gesicht. Sie wollte sich nicht vorstellen, was das medizinische Wort Colostoma für das tägliche Leben bedeutete. Eine Mischung aus Mitleid und Hilflosigkeit schlich sich in ihre Magengrube. Mitleid mit der Situation ihrer Mutter. Die musste mit einem Geschwür zurechtkommen, in dem Wissen, letztendlich davon besiegt zu werden. Hilflosigkeit, weil ihre Mutter es so weit kommen hatte lassen. Jahrelang, wahrscheinlich Jahrzehntelang hatte Amalia ihre Unterleibsbeschwerden verschwiegen, verleugnet, nichts dagegen getan. Und jetzt würde sie ihre Tochter viel zu früh verlassen. Erna fiel das Erlebnis im Zugtunnel ein. Während des Bombenangriffs. Wie sie von Dunkelheit, Menschen in heilloser Panik und der Angst bald sterben zu müssen, umgeben war. Allein, ohne die schützende Anwesenheit ihrer Mutter. Sie atmete tief ein. Streckte die Wirbelsäule durch wie einst in der Mannequin-Schule. »Ein gerader Rücken hat noch jeden schlechten Gedanken verscheucht«, sagte sie zu sich.
»Wir schaffen das schon, Papa«, sagte sie zu Josef.
»Was haßt
wir
?«, wehrte sich ihr Vater, »wir ham dabei nix zum Tun, wir san nur Zuschauer.
Sie
wird’s schaffen. I kann ihr nur zuschauen und sie bewundern.«
»Dickschädel«, sagte Erna und meinte ihre Mutter.
»Sturschädel«, korrigierte Josef.
Es klopfte zaghaft an der Tür. Erna öffnete. Magda und Franz kamen herein. Magda nahm ihr schwarzes Hütchen ab, auf dem ein seltsames Gesteck aus Papierblumen und Tüll befestigt war. Sofort drückte sie im Nacken auf ihre Haare. Franz hatte seinen Hut schon vor der Tür abgenommen. Sein Blick war fest. Seitdem die Cernys das Wirtshaus verkauft hatten, trank Franz nichts mehr. Magda hatte ihn dazu gedrängt. »Entweder du saufst weniger, oder ich schick dich nach Kalksburg«, hatte sie gesagt. Diese Drohung hatte sie davor bereits öfter geäußert und Franz stets Magdas Tatkräftigkeit bezweifelt. Erst als er eines Abends im Wirtshaus zusammengebrochen, am nächsten Morgen am Gaststubenboden aufgewacht war und nicht gewusst hatte, was geschehen war, bekam er es mit der Angst zu tun. Magda war bereitbeinig vor ihm gestanden, die Hände vor der Brust verschränkt. Franz war benommen, wusste nicht, welche Uhrzeit es war. In die Stube schien Sonne, keine Gäste waren im Raum. »Was, was?« stammelte er. »Wir verkaufen die Wirtschaft, sonst saufst dich zu Tod«, sagte Magda. Franz wälzte sich auf die Seite, wollte aufstehen, aber sein Kopf war zu schwer. »Die Wirtschaft rennt auf meinen Namen und ich will nicht mehr.« – »Aber …«, wollte Franz Einwände hervorbringen. Die Zukunft, das Einkommen, sein Fortbestehen … »Du wirst dir was anderes finden und in fünf Jahren gehst in Pension. Denn wennst so weitermachst, erlebst die nicht mehr.«
»Wie geht’s dir, Franz?«, fragte Josef. Er mochte Franz, nicht nur wegen der gemeinsamen Kriegsgeschichten, die sie gerne austauschten.
»Danke, besser. Du hast nicht zufällig ein Glaserl Wein für mich?«
Magda, die den angeblichen Witz gehört hatte, machte böse Augen und knuffte ihn mit ihrem Ellbogen in die Seite. Josef lachte.
»An Kaffee kannst haben.«
»Na bitte, ich bin dankbar für alles. Aber weißt eh, einen, wo der Löffel drin stecken bleibt.«
Josef füllte Kaffeepulver in die metallene Espressomaschine. »Guad schaust aus, die Abstinenz dürft gsund sein«, sagte er dabei.
»Eh, und wie alles, was gsund is, macht’s a ungeheure Freud.«
Magda Cerny stellte sich hinter ihre Enkelin und blickte kleinlaut auf die todkranke Amalia. Hilde überließ Magda ihren Platz an Amalias Bett. Dabei betrachtete sie ihre Cerny-Oma. Vor einiger Zeit hatte die völlig unpassend »den Busen hast von mir geerbt« zu ihr gesagt, und Hilde sich wahnsinnig dafür geniert. Aber jetzt musste sie der alten Frau, die an Amalias Bett stand, recht geben. Magda Cerny war vollschlank, ihr Busen ragte stolz in den Raum. Obwohl Magdas Pepita-Kostüm aus festem Stoff heute eine Nummer größer wirkte als sonst. Es saß locker um ihre Hüften, fast zu locker, nur der Busen schien nicht geschrumpft zu sein. Seit sie das Wirtshaus im 8. Bezirk verkauft hatte, wurde sie zunehmend schrulliger. Die Cernys waren in die Vorstadt gezogen. Seither trauerte Magda wegen ihres gesellschaftlichen Abstiegs. Früher war sie Wirtin gewesen, wurde in der Josefstädter Straße beim Einkaufen mit ihrem Namen begrüßt. Man
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