Die wilde Gärtnerin - Roman
brechen. Amalia sah so fragil aus, als konnte sie jede Berührung zusammensacken lassen. »Darf ich mich zu dir aufs Bett setzen?« Hilde wollte die Hand ihrer Oma halten.
»Sicher, setz di her.« Sobald Hilde jedoch Amalias Aufforderung nachkam, verzog diese das Gesicht. Hilde stand sofort wieder auf, aber Amalia hielt sie mit »bleib nur, es geht scho wieder« zurück. Es war für Hilde unerträglich, nichts von Amalias Schmerzen spüren zu können. Wie kann es sein, fragte sie sich schuldbewusst, dass meine Oma hier liegt, nur durch eine Hautschicht von mir getrennt, und ich spüre nicht, was sie fühlt? Ich müsste Omas Schmerzen doch am eigenen Leib spüren können? Aber Hilde spürte nichts. Sie saß dicht neben Amalia und es ging ihr gut. Ihr Körper funktionierte einwandfrei, während Amalias Zellen rebellierten. Hilde nahm Amalias schwache Körperwärme wahr. Sie hielt sie an der Hand und fühlte eindeutig, dass noch Leben in Amalias Adern floss. Dass im Bauch ihrer Oma ein Geschwür wuchs, das sie demnächst umbringen würde, wusste Hilde zwar, konnte es aber nicht spüren.
»Und, wie geht’s dir in da Schul?« Amalia kannte Hildes Schulprobleme. Erna hatte ihr oft davon erzählt, aber sie wollte die Version ihrer Enkelin hören.
»Ich werde durchkommen. Mit einem blauen Auge, aber ich werde es schaffen.«
»Des heard sich guad an.« Amalia richtete sich von ihren Kopfpölstern auf. Josef hatte sie so aufgeschüttelt, dass sie beinahe aufrecht saß. Sie flüsterte: »Kumm näher, i muass da was sagen.« Dann ließ sie sich wieder nach hinten fallen. Hildes Gesicht kam an Amalias heran. Sie konnte die Poren auf den eingefallenen Wangen ihrer Oma sehen, flaumige Haare, ihre Lippen, die blass und trocken Worte formulierten. »Lern brav, mach die Schul fertig, du bist a gescheites Mädl, lass da von niemanden was ondares einreden. Mach die Schul fertig, nachher kannst mochen, was d’ wüst. Dann stehst auf eigene Fiass. Versprich mir des.« Das eindringliche Sprechen strengte Amalia an. Des kann ja no was werden, dachte sie, wann i scho nach den poar Sätzen schwächle, wie soll i den Nochmittog überstehen? Sie wartete auf Hildes Antwort. Die betrachtete das Gesicht ihrer Oma und wunderte sich, dass Amalia sich über ihren Schulabschluss Gedanken machte.
Hilde war fünfzehn, besuchte die erste Oberstufe eines humanistischen Gymnasiums, trug Blue Jeans, lässige Turnschuhe, einen anliegenden Pullover und darunter einen Büstenhalter. Hildes Brüste waren gewachsen, ziemlich sogar, und trotzdem wohnte sie noch zuhause. Sie war nicht geflohen, sondern hatte sich mit den Launen ihres Vaters arrangiert. Sie konnte Antons Weltsicht zwar nicht verstehen, wusste aber, was sie tun oder unterlassen sollte, um halbwegs problemfrei mit ihm auszukommen. Ihre offenen, glatten Haare reichten ihr bis unter die Schulterblätter. Sie war schlank und schmucklos. Um alles in der Welt wollte sie verhindern, so zu werden wie ihre Mutter, daher schminkte sie sich nicht und lehnte weibliche Kleidung rigoros ab. Auf ihre beachtliche Oberweite allerdings, die sie als Kind sehnlichst erwartet hatte, hätte sie liebend gern verzichtet.
Seit der fünften Schulstufe hatte sich in Hildes Leben etwas Entscheidendes geändert. Sie hatte Frau Zuber als Religionslehrerin bekommen. Frau Zuber hatte erst kürzlich ihren Uniabschluss gemacht und war maximal zehn Jahre älter als Hilde. Frau Zuber, die ihre Schülerinnen »Anne« nannten, lehrte Ethik abseits des offiziellen Unterrichtsplans. Sie brachte neue Ideen in Hildes jugendliche Gedankengänge. Ideen, die Hilde plötzlich einen gangbaren Weg zwischen Eigentumswohnung, Auto und Italienurlaub ihrer Eltern sehen ließ. Hilde ahnte, dass sie unter Annes Einfluss der Macht ihres Vaters entfliehen könnte. Je länger sie sich in Annes Nähe hielte, desto zahlreicher würden ihre Fluchtmöglichkeiten werden.
»Oma, ich versprech dir, ich mach die Matura. Ehrensache.«
»Ehrensache«, wiederholte Amalia pathetisch und stupste ihrer Enkelin auf den Kopf.
Währenddessen standen Erna und Josef in der Küche. Erna befragte ihren Vater über Amalias Krankenhausaufenthalt, die Operation und ihre Befindlichkeit. Von ihrer Mutter würde sie keine klaren Auskünfte bekommen, wusste Erna.
»Was soll i da sogen, sie ham’s aufgschnitten und gleich wieder zuagmacht. Da gibt’s nix mehr zum Tuan. Außer Morphium, oba des wü s’ ned.« Erna schaute wütend zu ihrer Mutter hinüber. Dickschädel,
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