Die wilde Gärtnerin - Roman
strukturelle Missstände vorgehen zu können? Du willst allein das System in die Luft sprengen?« Rede jetzt doch gegen ihre Vorstellungen an. Natürlich zwecklos.
»Nein, das glaube ich nicht. Aber ich kann viele kleine Sprenglöcher bohren.«
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
[...] Von da an ist mir ihre Veränderung überall aufgefallen. [...] Wo konkret? – Na ja, es waren lauter Kleinigkeiten. Sie ist zum Beispiel ohne extra Aufforderung zu mir rübergekommen. Hat mit mir gekocht. Als sie eines Abends bei mir gesessen ist und ihr selbst Bennos Gegenwart nicht mehr zuwider war, da war mir klar, dass in ihr eine Veränderung vorgeht. Sie war so präsent, wie schon lange nicht mehr, so voller Kraft. Sie hat sich mit allen Sinnen an unserer Gegenwart beteiligt. Verstehen Sie? Sie war witzig, charmant. So hab ich sie schon eine Ewigkeit nicht mehr erlebt. Und sie ist Benno nicht mit ihrer Philosophie gekommen, das war bemerkenswert. Ich hab ihn zwar vorgewarnt, hab ihn von Helens Überlebensstrategie erzählt, aber dann redet sie überhaupt nicht über Scheiße. Sondern die beiden finden ganz andere Themen. Wirtschaft! Helen hat tatsächlich über Wirtschaftsthemen mit Benno geredet. Über die Sache mit dem Atommülllager und der Entführung – Sie werden sich sicher noch erinnern können. Ob es legitim ist, einen Verantwortlichen der Atomindustrie auf einer Deponie auszusetzen. Ob solche radikalen Methoden zielführend sind. Ob die einen Sinn machen. Beziehungsweise was so eine Aktion überhaupt bezwecken kann.
[...] Nein, nein, beide haben die Sache nicht gutgeheißen. Das einzig Positive daran sei die öffentliche Diskussion, die damit in Gang gesetzt wurde, haben sie gemeint. Sie waren sich einig, dass solche Empörungen in regelmäßigen Abständen aufflammen und relativ rasch wieder verebben. Das sei nur ein kurzer Aufruhr im alltäglichen Dauererregungszustand, nachdem alles wie üblich weitergehe. Solche Aktionen leisten keinen effektiven Beitrag für nachhaltige Energieerzeugung und läuten auch kein Umdenken in der Atompolitik ein. Die wirbeln nur Staub auf und verpuffen wieder.
[...] Nein, Mitleid mit dem Opfer hat Helen nicht gehabt. Der würde genug mit seinem unmoralischen Geschäft verdienen, da müsste der so eine kleine Schockbehandlung schon verkraften, waren in etwa ihre Worte. [...] Nein, die Diskussion verlief eher allgemein. Ob Profite der Energieindustrie überhaupt legitim sind und nicht automatisch der Bevölkerung zukommen müssten. Der Schaden wird ja auch zu hundert Prozent auf die Gesellschaft verteilt. Das waren so die Überlegungen, glaub ich. Der entführte Vorstand war ihr egal. – Ich hoffe, das belastet Helen jetzt nicht?
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1980
»Das sieht ja aus wie in der Kommune«, dachte Hilde Cerny. Besonders die Speisereste an der Wohnzimmerwand zeigten Parallelen zu einigen
Happenings
, denen Hilde kürzlich noch beigewohnt hatte. Aber das aufgerissene Parkett und der Brandfleck inmitten des Wohnzimmerbodens wären selbst für eine Ludwigshof-Aktion starke Hinterlassenschaften gewesen. In Innenräumen hatten sie nie offenes Feuer gelegt, schon gar nicht mit Materialien des Raumes, so wie es hier der Fall gewesen sein musste.
»Na ja, die Vormieter«, erklärte der Hausmeister, während er Hilde durch die Zwei-Zimmer-Wohnung führte, »die haben ihre fünf Kinder öfter allein gelassen. Man könnt auch sagen, sie ham’s eingesperrt.« Der Hausmeister ging zum Fenster und deutete auf den zerstörten Holzrahmen, der aussah, als hätte jemand mit einer Axt hineingeschlagen und mehrere Holzspäne herausgerissen. »Damit haben s’ Feuer gemacht. Wir können froh sein, dass die Eltern überhaupt noch zurückkommen sind, sonst gäb’s heute keine Stiege 18 mehr.« Der Hausmeister lachte über seinen Scherz.
Hilde dachte bestürzt darüber nach, wie es zu solchen Familienzuständen kommen konnte, weshalb die Jugendfürsorge nicht eher eingeschritten war, und welche Leute in diesem Haus wohnen mussten, wenn sie nicht einmal Feuer mitbekamen. »Auf der anderen Seite«, überlegte sie, »werden die sich sicher nicht über Babygeschrei aufregen«. Sie tätschelte dabei den Windelpo ihrer Tochter.
»Keine Sorge, die
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