Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
sie wollen den Western sehen.
Und dann fängt er endlich an! James Stewart spricht deutsch, fast synchron zu
seinen Mundbewegungen. Die Indianer wollen keine Eisenbahn. Das war die
Handlung.
    James Stewart
feuerte mit einem Karabiner aus der Hüfte, und es hätte eine noch nicht ganz
heruntergekommene Shelly Winters sein können, die mit einem Pfeil in der Brust
zu Boden sank. Wer immer es war, sie rollte aus dem Waggon, eine Böschung
hinunter, in einen kleinen Bach, wo sie von Wildpferden – die zufällig gerade
vorbeikamen – halb totgetrampelt und schließlich noch von einem lüsternen
Indianer, der zu feige war, den Zug anzugreifen, entehrt wurde. Sie mußte das alles
ertragen, ehe es ihr gelang, ihre Derringer aus dem blutverschmierten Dekolleté
zu ziehen, und dann pustete sie damit dem Indianer ein großes Loch in den Hals.
Erst jetzt stand sie auf – ihre von Wasser und Blut durchtränkten Kleider
klebten an ihr – und schrie: »Hilfe!« – während sie versuchte, den Pfeil
aus ihrem wogenden Busen herauszuziehen.
    Trumper ging auf eine schmierige Wurst und ein Glas Heurigen in
den ›Augustiner-Keller‹, lauschte einem alten Streichquartett und dachte
darüber nach, daß es sehr interessant sein müßte, Stuntwomen aus Hollywood
kennenzulernen, doch er hoffte, daß sie nicht alle Haare auf dem Busen hatten.
    Als er zurück
zur Pension ›Taschy‹ lief, gingen die Straßenlaternen an, doch nicht alle
gleichzeitig, sie gingen an und wieder aus, nicht mit hundertprozentiger
Präzision wie in Iowa; als sei der elektrische Strom in Wien eine neue,
gegenüber dem Gas noch unsichere Errungenschaft.
    Vor einem
Kaffeehaus in der Plankengasse sprach ihn ein Mann an. »Grajak ok bretzet«, schien er zu sagen, und Trumper
blieb stehen und überlegte, was das wohl für eine Sprache sein mochte. »Bretzet, jak?« fragte der Mann, und Trumper überlegte: [308]  Tschechisch? Ungarisch? Serbokroatisch? »Gra! Nucemo paz!« brüllte der Mann. Er war über irgend etwas wütend und fuchtelte
mit der Faust vor Trumpers Nase herum.
    Bogus fragte
ihn: »Ut boethra rast, kelk?« Mit Altniedernordisch konnte man
keinem was zuleide tun.
    »Gra?« fragte der Mann mißtrauisch. »Grajak, ok«, fügte er hinzu, schon etwas zutraulicher. Dann rief er eifrig: »Nucemo paz tzet!«
    Bogus tat es
leid, daß er ihn nicht verstand, und er begann auf altniedernordisch: »Ijs kik … «
    »Kik?« unterbrach ihn der Mann und
lächelte ihn an. »Gra, gra,
gra! Kik!« schrie
er und versuchte, Trumper die Hand zu schütteln.
    »Gra, gra, gra!« erwiderte Bogus und schüttelte dem
heftig gestikulierenden Mann die Hand, während der noch einmal »Gra, gra« murmelte
und immer überzeugter nickte, bevor er sich umdrehte, vom Bordstein
hinuntertorkelte und in gebückter Haltung auf die andere Straßenseite
zusteuerte; wie ein Blinder tastete er mit seinen Füßen nach dem Bordstein und
hielt sich schützend die Hand vor den Schritt.
    Bogus fand, die
Unterhaltung erinnere an die Gespräche mit Mr. Fitch. Dann bemerkte er auf dem
Gehweg einen zerknitterten Fetzen Zeitungspapier; die Schrift war unleserlich,
die Buchstaben sahen aus wie kyrillisch und wirkten eher wie Noten als wie
Teile von Worten. Er schaute sich nach dem kleinen Mann um, doch der war
spurlos verschwunden. Der aus einer in der merkwürdigen Sprache geschriebenen
Zeitung herausgerissene Artikel sah irgendwie wichtig aus – einzelne Teile
waren mit Kugelschreiber unterstrichen, Kommentare in derselben Sprache waren
dick an den Rand gekritzelt – und so steckte er den seltsamen Fetzen in die
Manteltasche.
    Trumper spürte,
wie seine Gedanken hin und her wanderten. Wieder in der Pension ›Taschy‹
angekommen, versuchte er, sich [309]  auf
etwas ganz Vertrautes zu konzentrieren, damit sie sich wieder beruhigten. Er
versuchte, eine Rezension über den Western zu schreiben, doch die
Schreibmaschinentasten mit den Umlauten irritierten ihn, und er mußte
feststellen, daß er den Filmtitel vergessen hatte. Wie weit kommt man mit einem Pfeil im Busen? Just in diesem Augenblick, wie
durch Gedankenübertragung, begannen die Bidets unter ihm mit ihrem nächtlichen
Rauschen.
    Bogus sah seine
eigene Gestalt in dem reich verzierten Fenster, das bis an die Decke reichte;
er und seine Schreibmaschine nahmen nur das Scheibensegment in der unteren Ecke
ein. Als Versuch, seine kleine, dahinschwindende Seele zu retten, zog er die
Rezension aus der Schreibmaschine und versuchte, ohne Umlaute zu

Weitere Kostenlose Bücher