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Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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verpaßt.«
    »Madam«, sagte
Merrill, als er mich an ihnen vorbeizerrte. »Seien Sie froh, daß der erste
Läufer Sie verpaßt hat!«
    Doch das weiß ich nur von Merrill, und Merrill ist nicht
unbedingt vertrauenswürdig. Als wir endlich im Gasthof ›Tauernhof‹ in Kaprun
angelangt waren, befand sich Merrill in einem schlimmeren Zustand als ich. Er
hatte eine Unverträglichkeitsreaktion auf das Insulin; sein Zuckerspiegel war
auf dem Nullpunkt angelangt. Ich [125]  mußte
ihm zur Theke helfen und dem Wirt, Herrn Halling, seinen suchenden Blick
erklären.
    »Er ist
Diabetiker, Herr Halling. Geben Sie ihm einen Orangensaft oder irgendwas
anderes mit viel Zucker.«
    »Nein, nein«,
wehrte Herr Halling ab, »Diabetiker dürfen keinen Zucker bekommen.«
    »Aber er hatte
zuviel Insulin«, erklärte ich ihm. »Er hat zuviel Zucker verbraucht.« Und als
wolle er demonstrieren, daß ich recht hatte, fuchtelte Merrill mit einer
Zigarette vor unseren Augen herum, zündete sie am Filter an, fand den Geschmack
widerwärtig und drückte sie auf dem eigenen Handrücken aus. Ich schlug sie ihm
aus der Hand, und Merrill starrte erstaunt auf die Stelle, wo die Verbrennung
wohl einen dumpfen Schmerz hervorgerufen hatte. Ist das wirklich meine Hand? Er hob sie mit der anderen Hand
hoch und winkte Herrn Halling und mir wie mit einer Fahne zu.
    »Ja,
Orangensaft, sofort«, sagte Herr Halling.
    Ich versuchte,
Merrill gegen mich zu lehnen, doch er rutschte benommen vom Barhocker.
    Als es ihm
wieder besserging, sahen wir im Fernsehen eine Wiederholung der Skirennen in
Zell. Die Österreicherin Heidi Schatzl gewann wie erwartet die Abfahrt, doch
beim Riesenslalom gab es einigen Aufruhr. Die erste Amerikanerin, die ein
internationales Rennen gewann, schlug sowohl Heidi Schatzl als auch die
französische Favoritin, Marguerite Delacroix. Die Mitschnitte waren
phantastisch. Delacroix ließ beim zweiten Durchlauf ein Tor aus und wurde
disqualifiziert, und Heidi Schatzl verkantete einen Ski und stürzte. Die
Österreicher im Gasthaus waren trüber Stimmung, doch Merrill und ich johlten
laut – unser Beitrag zur Völkerfeindschaft.
    Dann zeigten
sie den Lauf der Amerikanerin. Sie war neunzehn, blond und sehr stark. Die
ersten Tore durchlief sie glatt, wenn auch nicht allzu schnell. Ihre
Zwischenzeit war ein wenig [126]  langsam,
und das wußte sie; sie stürzte sich auf die unteren Tore wie ein Bus, der ins
Schleudern gerät, fuhr bald nur auf einem Ski, dann auf dem anderen, raste mit
ihren Schultern so knapp an den Stangen vorbei, daß die Fähnchen flatterten. Am
letzten Tor vollführte sie auf dem vereisten Schnee einen Balanceakt: sie
verlor das Gleichgewicht und konnte gerade noch auf einem Ski die Spur halten,
während der andere Ski wie ein Flügel neben ihrer Hüfte schwebte. Dann richtete
sie sich wieder auf, drückte den abgehobenen Ski sanft wie einen Kuß zurück auf
den Boden, schob ihren großartigen Hintern weiter zurück, über die Fersen,
fuhr, tief in der Hocke, in die Zielgerade und schnellte aus der Kauerstellung
hoch, sobald sie die Ziellinie hinter sich hatte. In einem sanften weiten
Bogen, der den Schnee aufstieben ließ, hielt sie an, genau vor dem Seil, das
die Zuschauer zurückhielt. Sie wußte ganz offensichtlich, daß sie das Rennen
gewonnen hatte.
    Anschließend
brachten sie ein Interview mit ihr. Sie hatte ein nettes, sanftes Gesicht, ihr
Mund war so breit wie ihre Wangenknochen. Kein Make-up, nur diese weiße
Lippenschutzcreme, an der sie ständig herumleckte; sie war völlig außer Atem,
lachte und alberte vor der Kamera herum. Sie trug einen einteiligen Skianzug,
der so eng und glatt an ihrem Körper lag wie eine zweite Haut; den großen,
goldenen Reißverschluß, der vom Kinn bis zum Schritt verlief, hatte sie bis zum
Brustansatz geöffnet, und ihre großen, hohen, runden Brüste drückten ihren
weichen Velourspullover heraus. Neben ihr standen die Zweite, Dubois aus
Frankreich – eine kleine, flinke, rattenähnliche Lady mit hervorstehenden Augen –, und die Dritte, die Österreicherin Thalhammer, ein dunkles, unförmiges
Mannweib. Die Amerikanerin war einen Kopf größer als die beiden und ein paar
Zentimeter größer als der Reporter, der von ihrem Busen ebenso beeindruckt war
wie von ihren Skilaufkünsten.
    »Sie haben
einen deutschen Namen«, wandte er sich, in einem fürchterlichen Englisch, an
sie. »Warum?«
    [127]  »Mein
Großvater kam aus Österreich«, erwiderte das Mädchen, und die Stimmung

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