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Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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»Was?« – »Nichts«, erwiderte ich, und er nickte.
Alles klar: Da war nichts gewesen.
    Und dann kamst
du herein, Biggie. Ich erkannte Sue ›Biggie‹ Kunft sofort. Ich stieß Merrill
mit dem Ellbogen an, er reagierte nicht. Ich zwickte ihn in den Rettungsring um
seinen Bauch und gab ihm unter dem Tisch einen festen, schmerzhaften Knuff.
    »Schwester…«,
sagte Merrill, »es fängt wieder an.« Dann sah [132]  er über meine Schulter hinauf zu den kleinen
Schädeln und Geweihen, die als Trophäen die Wand zierten. »Hallo! Setzt euch«,
sagte er zu ihnen. »Nett, daß ihr da seid.«
    Sue ›Biggie‹
Kunft hatte sich noch nicht entschlossen zu bleiben. Sie ließ den Parka an, zog
nur den Reißverschluß auf. Sie war nicht allein; zwei Mädchen standen neben
ihr, offensichtlich aus ihrem Team. Sie trugen alle diese Parkas mit den
olympischen Insignien und kleinen USA Stickern
am Ärmel. Die tolle Biggie Kunft und ihre zwei unattraktiven Teamgefährtinnen
hatten keine Lust zum Après-Ski in Zell am See; ob sie wegen dem Lokalkolorit
hierher gekommen waren – wegen der lokalen Männerwelt, die ihnen die
Möglichkeit zu einem anonymen Abenteuer bot?
    Eines der
Mädchen meinte, das Gasthaus ›Tauernhof‹ sei »idyllisch«.
    Ihre Freundin
sagte: »Hier ist ja keiner unter vierzig.«
    »Doch, der da«,
sagte Sue ›Biggie‹ Kunft und deutete auf mich. Merrill, der sich auf die lange
Bank auf der anderen Tischseite hingestreckt hatte, konnte sie nicht sehen.
    »Schwester?«
fragte er mich. Ich legte ihm eine Skimütze unter den Kopf, damit er es etwas
bequemer hatte. »Ich hab nichts gegen die Schlaftablette, Schwester«, murmelte
er erschöpft, »aber ich will keine Klistierspritze mehr.«
    Die Mädchen
waren immer noch unentschlossen, als Herr Halling und ein paar andere Gäste
nacheinander diese vollbusige Blondine erkannten. Sollten sie sich an einen
Tisch in der Ecke setzen oder bei mir ans andere Ende?
    »Er sieht ein
bißchen betrunken aus«, meinte eines der beiden Mädchen zu Biggie.
    »Was für einen
komischen Körper der hat!« sagte die andere.
    »Ich glaub, der
Körper ist ganz interessant«, meinte Biggie, zog den Parka aus und schüttelte
ihr tolles, schulterlanges Haar; selbstsicher kam sie auf meinen Tisch
zustolziert, ihre Gangart [133]  wirkte
fast männlich. Sie war eine große, starke Frau, wußte, daß ihre Anmut
sportlicher Natur war, und versuchte gar nicht erst, eine Art Weiblichkeit
vorzutäuschen, die sie nicht besaß. Sie trug kniehohe Fellstiefel, eine mollig
warme, dunkelbraune Stretchcordhose und einen dunkelorangen Pullover mit V-Ausschnitt,
ihr weißer Hals und Brustansatz bildeten einen grellen Konstrast zu ihrem
braungebrannten Gesicht. Die beiden tollen orangen Brüste senkten sich zu mir
herab wie ein vom Alkoholgenuß verdoppelter Sonnenuntergang. Ich hob Merrills
Kopf an beiden Ohren hoch, drückte ihn sanft zurück auf die Skimütze, dann,
etwas fester, direkt auf die Holzbank.
    »Aggressivität
ist ein Muß, Schwester«, sagte er. Seine Augen waren offen; er zwinkerte den
Gemsen an der Wand zu.
    »Ist hier noch frei?« fragte Sue ›Biggie‹ Kunft, die im
Fernsehen gesagt hatte, sie rede nur mit ihrem Vater deutsch.
    »Bitte, setzen Sie sich«, murmelte ich auf deutsch zurück.
Die große Schöne setzte sich mir schräg gegenüber, die beiden anderen taten es
ihr nach, unbeholfene Sportlerinnen, die versuchten, munter und mädchenhaft zu
wirken. Sie setzten sich neben sie, gegenüber von Merrill, der unbemerkt dalag;
nicht nötig, so dachte ich, sie zu beunruhigen, indem ich sie auf ihn
aufmerksam machte. Und ebensowenig, höflich aufzustehen und Sue Kunft zu zeigen,
daß sie zwei Zentimeter größer war als ich; wenn wir saßen, waren wir gleich
groß. Mein Oberkörper ist okay, nur meine Beine sind etwas zu kurz geraten.
    »Was möchten Sie trinken?« fragte ich und bestellte Apfelsaft
für die beiden Mauerblümchen und ein Bier für Biggie. Ich sah zu, wie Herr
Halling den Keller durchquerte und über die Schulter der Mädchen rief: »Zwei Apfelsaft, ein Bier… « Sein Geist nahm einen tiefen Zug
aus dem Dekolleté der Siegerin im Riesenslalom.
    Ich führte eine
belanglose Unterhaltung mit der Siegerin mir gegenüber, während die beiden
tragischen Mädchen am toten [134]  Ende
des Tisches herumsaßen und gackerten. ›Biggie‹ sprach eine Art
Hausmacherdeutsch, das sie von nur einem Elternteil gelernt und gehört hatte;
ihr Vater hatte ihr einen perfekten Akzent und

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