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Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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muß
verrückt sein«, meinte Biggie, doch sie war besorgt. Sie ging mit uns nach oben
und ignorierte die Bemerkungen ihrer häßlichen Teamgefährtinnen.
    »Wir sollten
jetzt gehen«, meinte die eine.
    »Es ist
schließlich nicht unser Auto«, sagte die andere zu mir. »Das Auto gehört dem
Team.«
    Als ich
zusammen mit Biggie den Flur entlangging, wurde mir klar, daß sie jetzt merken
mußte, wie klein ich war. Sie sah ein wenig auf mich herab. Zum Ausgleich tat
ich so, als sei Merrill überhaupt nicht schwer; ich ging mit ihm um wie mit
einem Sack Kartoffeln und nahm bei der nächsten Treppenflucht immer zwei Stufen
auf einmal, so daß Biggie sehen konnte: Er ist zwar nicht groß, aber er ist
stark.
    Als ich Merrill
in sein Zimmer beförderte, knallte ich seinen Kopf an den Türpfosten, den ich
nicht mehr richtig wahrnahm, weil mir vor Anstrengung schwarz vor Augen wurde.
Biggie zuckte zusammen, doch Merrill sagte nur: »Jetzt nicht, bitte nicht.« Er
öffnete die Augen, als ich ihn aufs Bett fallen ließ, und starrte auf die Lampe
über sich, als sei es das grelle Licht über einem OP- Tisch, auf dem er lag und darauf wartete, [155]  operiert zu werden. »Ich
kann nichts spüren, gar nichts«, sagte er zum Anästhesisten; dann wurde er schlapp
und schläfrig und schloß die Augen. »Wenn Sie alles aus dem Koffer
herausnehmen«, brummelte er, »dann müssen Sie es auch wieder einpacken.«
    Als ich die
ganzen Zuckerteströhrchen hervorkramte und das Testset über dem Waschbecken
aufbaute, tuschelte Biggie an der Tür mit den beiden anderen darüber, daß die
Saison schließlich vorbei war, daß das Ausgehverbot nicht mehr galt, daß das
Auto im guten Glauben verliehen worden war und daß man es zurückbringen mußte.
    »Merrill hat
ein Auto…«, sagte ich auf deutsch zu Biggie, »wenn du bleiben möchtest…«
    »Warum sollte
ich?« fragte sie.
    Ich erinnerte
mich an Merrills Lüge und sagte schnell: »Ich wollte dir noch mein Gedicht über
dich zeigen.«
    »Es tut mir
leid, Boggle«, murmelte Merrill, »aber diese Titten waren so toll – mein Gott,
was für ein Ziel! –, da mußte ich einfach ran.« Doch er redete im Schlaf, war
vollkommen k.o.
    »Das Auto«,
sagte eine der beiden Häßlichen, » wirklich, Biggie…«
    »Wir müssen es
wirklich zurückbringen«, bekräftigte die andere.
    Biggie sah sich
in Merrills Zimmer um, sah auch mich an, mit einem kühlen, fragenden
Blick. Wo hat denn der Exstabhochspringer seinen Stab?
    »Nein, bitte
nicht jetzt«, verkündete Merrill. »Ich muß jetzt pinkeln, ja, wirklich.«
    Ich war immer
noch mit den Fläschchen und Teststreifen für den Urintest zugange, drehte mich
zu den Mädels in der Tür um und wiederholte für Biggie auf deutsch: »Er muß
pinkeln.« Und hoffnungsvoll fügte ich hinzu: »Du könntest ja draußen warten…« Du warmes, festes, tolles Stück
Velours!
    [156]  Dann
war ich von ihrem Gemurmel auf dem Flur vor Merrills Zimmer ausgeschlossen,
konnte nur noch das keifige Gezeter der beiden unerwünschten Teamgefährtinnen
und Biggies ruhige, vollkommen gleichgültige Stimme hören.
    »Du weißt ganz
genau, daß wir beim Frühstück eine Besprechung haben…«
    »Na und, wer
sagt denn, daß ich beim Frühstück nicht dabei bin?«
    »Sie werden
dich wegen heute abend fragen…«
    »Biggie, und
was ist mit Bill?«
    Bill? dachte
ich, als ich den schwankenden Merrill zum Waschbecken begleitete; seine Arme
vollführten die wilden Flatterbewegungen eines schwachen, linkischen Vogels.
    »Was ist mit
Bill?« zischte Biggie im Flur.
    Genau! Sagt
Bill, sie hat was mit einem Stabhochspringer angefangen!
    Doch Merrills
unsichere Haltung am Waschbecken beanspruchte meine ganze Aufmerksamkeit. Auf
der Glasscheibe, wo normalerweise die Zahnpasta liegt, standen die Teströhrchen
mit den bunten Lösungen, mit denen man den Zucker im Urin testet. Overturf
starrte mit dem Blick darauf, den ich von ihm kannte, wenn er die bunten
Flaschen hinter einer Theke anglotzte, und ständig mußte ich aufpassen, daß er
mit dem Ellbogen nicht ins Waschbecken abrutschte, während ich sein schlaffes
Gerät in seinen speziellen Pinkelbecher hielt, einen Bierkrug, den er in Wien
geklaut hatte; er mochte ihn, weil er einen Deckel hatte und einen ganzen Liter
faßte.
    »Okay,
Merrill«, sagte ich. »Laß laufen.« Doch er glotzte nur auf die Teströhrchen,
als sähe er sie zum ersten Mal. »Wach auf. Junge«, ermunterte ich ihn. »Mach’s
voll!« Doch Merrill schielte durch die

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