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Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Röhrchen hindurch auf sein eigenes,
graues Gesicht im Spiegel. Hinter seiner Schulter sah er mich lauern –
bedrohlich dicht an ihn gedrängt, bemüht, ihn aufrecht zu halten. Feindselig [157]  starrte er auf mein
Spiegelbild; er erkannte mich nicht. »Laß meinen Schwanz los, du!« sagte er zum
Spiegel.
    »Merrill, halt
die Klappe und pinkel.«
    »Ist das das
einzige, woran ihr denkt?« zischte Biggie ihren Freundinnen auf dem Flur zu.
    »Ja, und was
sollen wir Bill sagen?« fragte eine von ihnen. »Also, ich werde nicht lügen –
wenn er mich fragt, werd ich’s ihm sagen.«
    Ich öffnete die
Tür, hielt dabei Merrill an der Hüfte und seinen Pimmel in den Bierkrug.
»Sagt’s ihm doch auch, wenn er nicht fragt!« schlug ich den beiden entsetzten
Keifen vor. Dann schloß ich die Tür wieder und schob Merrill zurück zum
Waschbecken. Auf dem Weg dorthin begann er zu pinkeln. Biggies helles Lachen,
das in diesem Moment erklang, mußte irgendeinen Nerv in ihm getroffen haben,
denn er zuckte zusammen, woraufhin ich den Deckel losließ und sein Ding im
Bierkrug einklemmte. Er löste sich aus meinem Griff und pinkelte mir ans Knie.
Am Fußende des Bettes holte ich ihn ein, er drehte sich um, und während er
weiter in hohem Bogen drauflospinkelte, verzog er das Gesicht wie ein Kind, das
über seinen eigenen Schmerz erstaunt ist. Mit ausgestreckten Armen drückte ich
ihn über die Bettkante, und er fiel wie ein nasser Sack aufs Bett, pinkelte
eine letzte Fontäne senkrecht nach oben und übergab sich dann aufs Kopfkissen.
Ich stellte den Pinkelkrug ab, wusch ihm das Gesicht, drehte das Kissen herum
und deckte ihn mit dem riesigen Plumeau zu, doch er lag steif mit
weitaufgerissenen Augen da. Ich wusch die Pisse von mir ab, tauchte die Pipette
in das Pinkelglas und entleerte sie in die Teströhrchen mit den
Indikatorlösungen: rot, grün, blau und gelb. Dann fiel mir ein, daß ich nicht
wußte, wo die Farbskala war. Ich wußte nicht, in welche Farbe Rot umschlagen
sollte, in welche Farbe Blau nicht umschlagen durfte, und ob das Grün so klar
bleiben oder trüb werden sollte, und was Gelb bedeutete. Ich hatte bisher nur
gesehen, wie Merrill den Test selbst durchführte, weil [158]  er immer früh genug wieder zu sich gekommen
war, um die Farben selbst zu vergleichen. Ich ging hinüber ans Bett, in dem er
nun zu schlafen schien, und langte ihm ordentlich eine; er biß die Zähne
zusammen, grunzte und schlief sofort weiter, also langte ich noch mal hin und
versetzte ihm einen gewaltigen Schlag in den Magen. Doch es machte nur wumm !
Merrill zuckte nicht mal mit der Wimper.
    Also
durchwühlte ich seinen Rucksack und fand schließlich all seine Spritzen,
Nadeln, Injektionsflaschen mit Insulin, Beutel mit Kandiszucker, seine
Haschpfeife und, ganz unten, die Farbskala. Da stand, daß es in Ordnung sei,
wenn sich Rot zu Orange verfärbte, wenn Grün und Blau die gleiche Farbe
annahmen, wenn sich Gelb zu einem trüben Dunkelrot verfärbte; es war nicht in
Ordnung, wenn Rot »zu schnell« in trübes Dunkelrot umschlug, wenn sich Grün und
Blau verschieden verfärbten und wenn Gelb zu Orange wurde und klar blieb.
    Doch als ich
mich wieder den Teströhrchen zuwandte, waren die Farben schon umgeschlagen, und
ich hatte vergessen, in welcher Reihenfolge die Farben ursprünglich dagestanden
hatten. Dann las ich auf der Tafel nach, was man tun sollte, wenn man
befürchtete, der Zuckerspiegel sei gefährlich hoch oder niedrig. Man sollte
natürlich einen Arzt aufsuchen.
    Draußen auf dem
Flur war es still geworden, und ich war betrübt, weil Biggie anscheinend
weggegangen war, während ich hier mit Merrills Pimmel herumfummeln mußte. Dann
begann ich, mir etwas Sorgen um ihn zu machen, setzte ihn aufrecht hin, indem
ich ihn an den Haaren hochzog, und versetzte seiner grauen Wange einen
ordentlichen Schlag, und dann noch einen und noch einen, bis er die Augen aufmachte
und das Kinn auf die Brust sinken ließ. Er sprach mit dem Wandschrank, oder zu
irgendeinem Punkt über meiner Schulter: ein erhebender, trotziger Schrei
angesichts großer Schmerzen: »Fick dich ins Knie!« brüllte Merrill. »Fick dich
doch ins Knie!«
    [159]  Dann
nannte er mich mit ganz normaler Stimme Boggle und sagte, er habe schrecklichen
Durst. Also gab ich ihm Wasser, jede Menge Wasser, schüttete die ganzen
dunkelroten, blaugrünen, orangen Pinkelfarben ins Waschbecken und spülte die
Teströhrchen aus, damit er, wenn er in der Nacht aufwachte und völlig

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