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Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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fest.
    »Ein bißchen.«
Eine geheimnisvolle Antwort; im Wartesaal könnte man eine Stecknadel fallen
hören.
    »Könnten Sie
mir bitte sagen, was genau…«
    »Es ist
verklebt.«
    »Verklebt?«
    »Total
verklebt.«
    »Aha. Total…«
Sie schaut meine Unterlagen durch, eine lange Geschichte totalen Verklebtseins.
»Und Sie hatten diese Probleme schon früher?«
    »Schon lange,
rund um den Globus, von Österreich bis Iowa.« Der Warteraum ist von dieser
weltweiten Krankheit beeindruckt.
    »Aha. Und
deshalb sind Sie auch das letzte Mal bei Dr. Vigneron gewesen?«
    [210]  »Ja.«
Unheilbar, entscheidet der Warteraum. Armer Kerl.
    »Und haben Sie
etwas eingenommen?«
    »Wasser.« Die
Sprechstundenhilfe schaut auf; offensichtlich ist ihr die Wassermethode kein
Begriff.
    »Aha«, sagt sie.
»Wenn Sie einen Augenblick Platz nehmen würden, Dr. Vigneron wird Sie gleich
aufrufen.«
    Als ich durch
das Wartezimmer zu Tulpen ging, sah ich, wie die Mutter mich freundlich
anlächelte, das Kind mich anstarrte und das umwerfende Mädchen nachdenklich die
Beine kreuzte. Wenn es total verklebt ist, bleib mir bloß vom Leib. Doch der
arme alte Mann mit seinen kaputten Leitungen reagierte nicht; vielleicht war er
schwerhörig, oder völlig taub, oder er pinkelte durchs Ohr.
    »Man sollte
meinen«, flüsterte Tulpen, »daß du langsam genug davon hast.«
    »Genug wovon?«
fragte ich sie zu laut. Die Mutter zuckte zusammen, das Mädchen raschelte mit
der Zeitung; der alte Mann rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her,
und seine schrecklichen Eingeweide schwappten mit.
    »Davon«, zischte Tulpen und klopfte sich
mit der Faust auf den Schoß. »Davon«, wiederholte sie und bezog mit einer
behutsamen Handbewegung diese Sammlung von Harnverletzten mit ein. In
Wartezimmern von Ärzten spürt man immer eine ganz seltsame Verbrüderung unter
den Patienten; doch im Wartezimmer eines Facharztes gibt es eine noch viel
schlimmere Intimität. Es gibt Clubs für Veteranen, für Leute mit
überdurchschnittlichem Intelligenzquotienten, für Lesben, für Frauen, die
Drillinge zur Welt gebracht haben, Clubs für Republikaner und für Demokraten
und für Neo-Maoisten, doch hier saß eine Zwangsgemeinschaft: Leute, die
Schwierigkeiten beim Pinkeln hatten. Wir könnten uns Vigneronisten nennen! Uns
einmal die Woche treffen, Wettkämpfe veranstalten, Ausstellungen machen – eine
Art Sportfest für urologische Disziplinen.
    Dann trat Dr.
Jean-Claude Vigneron aus den heiligen Hallen [211]  seiner Untersuchungsräume ins Wartezimmer, und
mit ihm schwebte eine Wolke männlichen Gauloise-Geruchs herein. Wir
Vigneronisten blickten ehrfurchtsvoll auf unseren Meister: Wer von uns würde
nun gerufen werden?
    »Mrs. Cullen?«
sagte Vigneron. Nervös erhob sich die Mutter und redete ihrem Kind zu, schön
artig zu bleiben.
    Vigneron
lächelte Tulpen an. Diese Franzosen! »Möchten Sie zu mir?« fragte er sie.
Tulpen, die Außenseiterin in der Schar der hier versammelten Vigneronisten,
starrte ihn an, ohne seine Frage zu beantworten.
    »Nein, sie
begleitet mich nur«, sagte ich zu Vigneron. Er und Tulpen lächelten.
    Als der Arzt
mit Mrs. Cullen entschwand, flüsterte Tulpen: »Ich hätte nicht gedacht, daß er
so aussieht.«
    »Wie sieht er
denn aus?« fragte ich sie. »Wie sollten Urologen denn aussehen? Wie eine
Harnblase?«
    »Er sieht nicht
aus wie eine Harnblase«, gab Tulpen beeindruckt zurück.
    Das Kind saß schüchtern
auf seinem Stuhl und hörte uns zu. Wenn ihre Mutter die Patientin ist, dachte
ich, warum sieht dann das kleine Mädchen so gelb und geschwollen aus? Ich kam
zu dem Schluß, ihr Aussehen sei darauf zurückzuführen, daß man ihr nicht
erlaubte zu pinkeln. Ungefähr so alt wie Colm, überlegte ich. Es war ihr
unangenehm, allein dazusitzen, sie war nervös; immer wieder schielte sie zur
Sprechstundenhilfe hinüber und beobachtete den alten Mann. Der beunruhigte sie,
und so versuchte ich, sie etwas abzulenken. »Gehst du zur Schule?«
    Doch jetzt
schaute das umwerfende Fräulein in Leder auf. Tulpen starrte mich nur an, und
das Kind ignorierte die Frage.
    »Nein, tu ich
nicht«, sagte das überraschte Lederfräulein und sah glattweg durch mich
hindurch.
    »Nein, nein«, sagte
ich, »Sie meine ich gar nicht.« Jetzt starrte mich das kleine Mädchen an. »Ich
meine dich «, sagte ich und [212]  zeigte mit dem Finger auf
sie. »Gehst du schon zur Schule?« Das Kind war verängstigt und fühlte sich
bedroht; sicherlich hatte man ihr

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