Die wilde Jagd - Roman
aufgewühlte Erde und stellten abgestumpfte Eschenlanzen auf, doch Ansel sah das alles kaum. Er sah einen von der Sonne beschienenen gepflasterten Hof mit wilden Rosen an der Wand, und ein kleines Mädchen in einem gelben Kleid legte ihm eine Girlande aus Gänseblümchen um den Hals.
Jenara. Er hatte es sich seit langer Zeit nicht mehr erlaubt, ihren Namen auszusprechen, ja, nicht einmal mehr, an ihn zu denken. Noch immer klang er wie Musik, auch wenn er nur in Ansels Kopf war.
»Was glaubt Ihr, wird sie herkommen und zusehen, wie er seine Sporen erhält?« Der Älteste Festan hatte sich in der Reihe unter ihm umgedreht.
»Die Superiorin von Caer Amon hat mir gesagt, dass Selsens Mutter vor einigen Jahren die Weihen erhalten hat«, sagte Ansel. »Bei den Tamasierinnen auf der Insel des Heiligtums, glaube ich.«
»In der Leprakolonie?« Festan machte das Zeichen des Schutzes. »Dann vermute ich, dass sie nicht kommen wird.«
»Habt Ihr sie gut gekannt, Präzeptor?«, fragte Ceinan weiter hinten in der Reihe. Die Andeutung eines Lächelns lag auf seinen hageren Zügen. »Ihr scheint sehr darauf erpicht zu sein, dass ihr Sohn heute gewinnt.«
Was weißt du denn schon? »Ich bin erpicht darauf, dass sich jeder begabte Novize gut schlägt, Ältester«, sagte er gelassen. »Allerdings wird Selsen eine Zier für unseren Orden sein.«
»Dessen bin ich mir sicher.« Ceinans Stimme war so weich wie geölte Seide. Er schaute hinunter auf seinen Ärmel und zupfte ein Stäubchen ab, das zu klein war, um sichtbar zu sein. »Ich dachte, Ihr habt vielleicht irgendeine besondere Beziehung zu dem Jungen.«
Der Sonnenschein verlor seine gesamte Wärme.
»Beziehung?«, fragte Ansel.
»Vielleicht ist er verwandt mit Euch?« Als Ceinan wieder aufschaute, lag vor seinen blauen Augen ein Schleier der Unschuld. »Euer Sohn etwa?«
Jetzt ist es heraus .
Einige schockierte Älteste starrten ihn über ihre Schultern mit offenem Mund und glasigen Augen an wie Fische auf dem Trockenen.
Danilar hatte sich am schnellsten gefangen. »Ältester Ceinan, das ist ein empörender Gedanke! Wie könnt Ihr es wagen …«
Ansel streckte die Hand aus, legte sie dem Kaplan auf die Schulter und brachte ihn damit zum Schweigen. »Nein, Ältester. Dieser Novize ist nicht mein Sohn.« Er sprach deutlich und ruhig, konnte es sich aber nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Auch wenn seine Mutter mich nackt gesehen hat.«
»Präzeptor?«, prustete Festan.
Ansel sprach weiter, als sich ein Ältester nach dem anderen zu ihm umdrehte. »Ja, und zwar mehr als einmal. Sie hat während der Wüstenkriege für den Orden ein Hospital geleitet. Ich hatte einen gebrochenen Arm, der von einem Feldscher sehr schlecht behandelt worden war. Sie hat ihn erneut gebrochen und gerichtet. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich in Samarak noch eine Lanze anlegen konnte, und in gewisser Weise hat sie mir damit das Leben gerettet. Als Selsen alt genug war, um Novize zu werden, war das Mindeste, was ich für sie tun konnte, einen Platz für das Kind zu finden.«
Er sah Ceinan eindringlich an und wartete auf eine Reaktion, doch der Dremenier beherrschte seine Miene vollkommen. Nicht einmal eine Braue zuckte.
»Anscheinend bin ich falsch informiert«, sagte er und neigte den Kopf. Es war keine Entschuldigung, sondern bloß eine Höflichkeitsbezeugung.
»Offensichtlich.«
Ansel wandte sich wieder dem Turnierplatz zu und schüttelte kurz den Kopf, als er Danilars nervöses Stirnrunzeln bemerkte. Er würde das Spiel nicht weitertreiben, auch wenn der Älteste einer Anklage wegen groben Fehlverhaltens gefährlich nahegekommen war. Es war das Beste, diese Sache erst einmal auf sich beruhen zu lassen, damit das Turnier fortgeführt werden konnte. Es stand zu viel auf dem Spiel, und zu viel konnte noch immer schiefgehen. Doch wenn die Göttin es wollte, war die Sache bald erledigt.
Trotzdem bereitete es ihm Sorgen, dass Ceinan so unverhohlen und in aller Öffentlichkeit versucht hatte, ihm eine Falle zu stellen. Es musste sich um ein Ablenkungsmanöver handeln, das seine Aufmerksamkeit erregen sollte, während die mörderische Klinge von einer anderen Seite zustieß. Der Schlag des Scharfrichters – wann würde er erfolgen? Oder hatte Gorans Verhaftung Ceinan seines Handlangers beraubt und ihn dazu getrieben, statt aus dem Hinterhalt heraus nun offen zu handeln?
Gütige Göttin, sein Hirn war inzwischen so verdreht und nutzlos wie seine arthritischen Hände. Er konnte einfach
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