Die wilde Jagd - Roman
gegenübersehen.«
Es ertönten zischende Missfallensbekundungen. Die Königin drehte den Kopf zur Seite und hatte die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst.
»Seid Ihr Euch sicher? Habt Ihr diesen Geistplünderer gesehen?«, fragte Taren, der nach Tanith der Zweitjüngste war. Er war schlank und dunkelhäutig und wirkte dadurch jünger, als er war, bis man genauer hinschaute und die Falten um die Augen sowie die grauen Haare an den Schläfen bemerkte.
»Ich habe seine Arbeit gesehen, und das reicht mir.« Trotz ihrer angestrengten Bemühungen hatte Taniths Zittern nun ihre Stimme erreicht, und je mehr sie es zu unterdrücken versuchte, desto schärfer wurde ihr Ton. »Ein junger Mann wurde angegriffen, sein Körper so verletzt, dass er beinahe verblutet wäre, während ich mich um ihn gekümmert habe. Sein Geist und seine Erinnerungen waren schrecklich zugerichtet.« Eine einzelne heiße Träne tropfte von ihren Wimpern und rann an ihrer Wange entlang, als sie daran denken musste. »Ich musste ihn vor dem Sang abschirmen, damit er überhaupt Frieden finden konnte.«
»Hat dieser junge Mann überlebt?«, fragte Denellin.
»Ja, aber das hat er eher seinem Glück als meinen Heilkünsten zu verdanken.« Tanith löste einen Perlenknopf nach dem anderen an ihrem Ärmel.
»Wer ist er? Kann er für eine Befragung vor uns gebracht werden?«
»Er ist keine wichtige Person, kein Sprössling eines edlen Hauses, nur ein Mensch.« Sie schob den Ärmel zurück. Zwei oder drei Perlen rissen dabei ab und fielen klappernd auf den Mosaikboden. »Das hier haben mir die Kreaturen des Geistplünderers angetan.« Sie hielt den entsetzten Gesichtern ihren versengten Unterarm entgegen. »Ist es nun real genug für Euch? Ist das Beweis genug, dass die Bedrohung, der wir und der Schleier gegenüberstehen, wirklich existiert?«
Denellin regte sich unbehaglich auf seinem Sitz. »Bitte, Herrin Elindorien, beruhigt Euch wieder.«
»Nein!« Eine weitere sengende Träne fiel. »Ich werde mich nicht beruhigen! Ich werde mich nicht zurücklehnen und würdevoll dreinschauen, während ein Geistplünderer umgeht, der zu so etwas in der Lage ist.« Sie schüttelte ihren Arm. »Und zu so etwas.« Sie warf die Vision eines Trauerzuges mit vierundzwanzig in Laken gewickelten Leichnamen in die Luft, die zu noch nicht angezündeten Scheiterhaufen getragen wurden, und durchsetzte sie mit weiteren Bildern: die zerfallenden Schilde des Kapitelhauses, Donatas entsetztes, todesstarres Gesicht, die heulende Dämonenhorde, die unbewaffnete Männer angriff. »Wir müssen etwas gegen ihn unternehmen. Versteht Ihr das nicht? Das hier betrifft uns alle, jeden Einzelnen von uns. Wenn der Schleier fällt, gibt es für uns keinen Platz mehr. Wir werden genauso wehrlos sein, wie sie es waren, und wenn wir uns jetzt zurückziehen, haben wir niemanden mehr, den wir um Hilfe bitten können, wenn die Dämonen zu uns kommen.«
»Tochter.« Die Stimme der Königin klang schneidend und stählern wie eine Klinge.
Tanith schlug sich mit dem Handrücken gegen die Wangen und wandte sich dem höchsten Thron zu. »Majestät?«
Königin Emelia war das älteste Mitglied des Hofes. Sie war eine schilfrohrartige Frau in einem hauchdünnen perlgrauen Kleid, das ihre sitzende Gestalt wie staubige Spinnweben umhüllte. Ihre weißen Haare hatte sie hochgesteckt; sie wurden von langen Nadeln gehalten, an denen kristallener Zierrat bei den kleinsten Bewegungen glitzerte und tanzte. Doch an ihrem Gesicht war nichts Zerbrechliches oder Vergängliches. Gleichmäßig und mit Adlernase, war es eher gut aussehend als schön, und ihre Augen, groß und leuchtend wie Tigerjade, durchbohrten Tanith wie eine Nadel einen Schmetterling. »Du sprichst mit großer Überzeugung, Tochter. Deine Leidenschaft ehrt dich, auch wenn sie der Ehrwürdigkeit dieser Versammlung ein wenig abträglich ist.«
Tanith errötete, doch sie hielt den Kopf aufrecht. Zorn und Enttäuschung brannten heiß in ihr.
»Du hast recht, wenn du sagst, dass wir ein Teil des Reiches sind und viele Jahre von ihm profitiert haben. Aber die Schwierigkeiten, die es nun durchlebt, sind nicht unsere Schwierigkeiten. Sie sind von den Menschen gemacht, und daher müssen die Menschen eine Lösung für sie finden. Wir können ihnen diese Lösung nicht bieten, und ich will nicht das Risiko eingehen, dass jemand von uns verletzt wird, weil er sich in die Angelegenheiten der Menschen einmischt.«
Das Entsetzen trieb die Worte in
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