Die wilde Jagd - Roman
reisen. Wenn ich einen Führer finde, kann ich in weniger als einer Woche dort sein.«
»Du willst durch den Wildniswald reisen? Und was dann? Wird Theodegrance die Bedrohung für den Schleier besser verstehen? Die Menschen vertrauen dem Sang nicht so wie wir, Tochter. Sie sehen ihn als etwas Böses an.«
»Nicht alle, Papa. Ich muss nur einen Weg finden, wie ich es ihnen verdeutlichen kann.« Angesichts ihres völligen Versagens bei ihrem eigenen Volk waren das große Worte, aber sie musste es wenigstens versuchen.
Er runzelte die Stirn und zog die Brauen zusammen. »Wird der Kaiser dich überhaupt empfangen?«
»Ich glaube, mein Stammbaum weist so viele Titel auf, dass er mir eine Audienz gewähren muss. Und wenn nicht …« Sie zuckte die Schultern. »Dann werde ich halt den Kriegsherrn aufsuchen. Einem arennorischen Clansmann wird der Schleier niemals gleichgültig sein, auch wenn Theodegrance ihm vielleicht keine Aufmerksamkeit schenkt.«
Ein Lächeln nahm den Ernst aus dem Gesicht ihres Vaters und brachte seinen Augen ein wenig Licht zurück. »Oh, meine Tochter, ich wünschte, deine Mutter wäre hier und könnte sehen, zu welch einer Unruhestifterin die Frucht unserer Liebe geworden ist.«
»Papa?«
»Als sie von uns gegangen ist, warst du noch ein kleines Mädchen mit Schleifen im Haar«, sagte er. »Wenn sie dich jetzt in deiner Reithose, mit einem Dolch am Gürtel und einem Bogen über der Schulter sehen könnte …« Er ergriff ihre Hand und holte gleichzeitig mit der anderen Hand etwas aus seiner Hosentasche. »Ich glaube, sie wäre stolz auf dich.«
Er legte ihr etliche Perlenknöpfe in die Hand; an einigen hingen noch weiße Fäden. Er schloss ihre Finger um sie und fügte hinzu: »Sie hat Hofkleider ebenfalls gehasst.«
Tanith legte ihm die Arme um die Schultern und drückte ihn fest an sich. »Ich werde dich vermissen«, flüsterte sie.
Der Großherr Elindorien war überrascht von ihrer Umarmung und erwiderte sie nur zögernd. Er tat es ein wenig unbeholfen, als ob es ihm nicht recht sei, seine Gefühle so offen zu zeigen, doch als sie sich wieder voneinander lösten, bemerkte Tanith, dass seine Stimme belegt war, als er fragte: »Willst du keine Eskorte mitnehmen?«
»Was habe ich denn in den Wäldern von Bregorin zu befürchten? Außerdem komme ich ohne Zelte und Trompeter schneller voran.«
Seine Brauen zuckten. »Nicht einmal eine Kammerzofe? Du bist schließlich eine Herrin des Hofes.«
Sie lachte. »Papa, ich habe ganze fünf Jahre im Kapitelhaus ohne eine Zofe überlebt. Ich glaube, ich komme auf diesem Ritt durch die Wälder allein klar.«
Er hob die Hände und gab sich geschlagen. »Also gut. Es wäre mir lieber, wenn du nicht allein wärest, aber du bist schließlich kein Kind mehr. Wann willst du aufbrechen?«
»Morgen früh in der Dämmerung.«
»Dann mögen dich die wohlwollenden Geister geleiten, bis du zurückkehrst.« Ernst küsste der Großherr Elindorien sie auf die Wangen. »Ich werde deinen Sitz am Hof als dein Stellvertreter einnehmen.«
»Danke. Nach dem, was ich dort heute Nachmittag gesagt habe, werden sie vermutlich erleichtert sein, dich wiederzusehen.« Sie biss sich auf die Lippe und wusste nicht, wie sie ihm erklären sollte, dass sie nicht die Tochter war, die er sich erhofft hatte. »Ich weiß, dass du dir etwas anderes für mich gewünscht hast, Papa. Du hast erwartet, dass ich eine vorteilhafte Ehe eingehe und meinen Platz am Hof einnehme, wie Mutter es getan hat, aber das hier ist zu wichtig. Ich muss es tun.«
Er lächelte. »Ich glaube, ich verstehe dich besser, als du weißt, meine Tochter. Schließlich habe ich deine Mutter geheiratet – gegen den Willen ihres Vaters, wie ich hinzufügen möchte.«
Überrascht sagte sie: »Das habe ich nicht gewusst.«
»Ja, ich glaube, er hatte einen Amerlaine-Jungen im Sinn und nicht einen kleinen Aufsteiger aus einem sehr unwichtigen Haus.« Er ergriff wieder ihre Hände, und diesmal sah sie sein Innerstes in seinem Blick. »Aber er konnte damals seiner Tochter diesen Herzenswunsch genauso wenig abschlagen, wie ich dir deinen heute abschlagen kann.«
»Oh, Papa.« Sie küsste ihn noch einmal und spürte, wie neue Tränen in ihr aufstiegen. Diesmal war es nicht der bittere Saft der Enttäuschung, sondern der süße der Liebe.
»Versprich aber, zu uns zurückzukommen, Tanith. Wenn wir diese Zeit überleben sollten, wird Astolar dich und Töchter wie dich brauchen.«
»Ich verspreche es.«
Er drückte ihr
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