Die wilde Jagd - Roman
stemmte die Hände in die Hüften, schaute in den Himmel und drehte sich dabei langsam um sich selbst. »Wir sollten besser fragen, wann wir hier sind«, meinte er und sah hinüber zu ihr. »Du hast gesagt, die Zeit vergeht hier anders, nicht wahr? Vielleicht erkennen wir gerade ansatzweise, wie anders sie vergeht.«
Das ergab einen Sinn. Die Märchenbücher waren voller Geschichten über Bregorins Führer und darüber, wie sie Abkürzungen durch den Wildniswald fanden. Schließlich hatte sie sich selbst an einen dieser Führer gewandt, damit sie ihre Reise nach Mesarild abkürzen konnte. Sie hätte das hier – oder etwas Ähnliches – erwarten sollen.
»Natürlich«, sagte sie und legte sich wieder hin. »Ich hatte nicht richtig nachgedacht.«
Ailric kehrte zu seinem Schlafplatz zurück, setzte sich und stützte sich auf den einen Arm. Sein helles Haar schimmerte silbrig wie sein Hemd. »Du brauchst keine Angst zu haben, Liebste. Du hast deinen Führer, und ich werde für deine Sicherheit sorgen.« Er hob die andere Hand, als ob er sie berühren wollte, doch dann schien er sich eines Besseren zu besinnen. »Schlaf gut.«
»Du auch.« Tanith warf einen letzten Blick auf die unvertrauten Sterne, dann drehte sie sich auf die Seite und schloss die Augen.
3 5
»Idiot!«
Gair zuckte zusammen. Er lag nur mit einem Handtuch bedeckt auf dem Tisch der Krankenstation des Tochterhauses, während Alderan voller Wut die Flaschen auf den Regalen durchging. Staubflocken schimmerten im Licht des Nachmittags, das schräg durch die geschlossenen Fensterläden fiel.
»Was hast du dir dabei gedacht? Ich habe dir gesagt, halte dich von den anderen fern, und was tust du? Du zerhackst vier Kultistenkrieger mitten auf dem Marktplatz. Du bist ein Idiot!«
»Ich habe es schon beim ersten Mal verstanden«, murmelte Gair und drehte den Kopf zur Seite.
Alderan stellte eine Flasche heftig auf dem Tisch ab, beugte sich vor, bis er nur wenige Zoll von Gairs Gesicht entfernt war, und sah ihn finster an. »Idiot«, wiederholte er langsam und deutlich.
»Die Schwestern waren wild entschlossen. Ich konnte sie doch nicht allein gehen lassen.«
»Dann sind sie ebenfalls Idioten!«
Alderan entkorkte die Flasche und goss den Inhalt unmittelbar auf Gairs Wunde. Die Flüssigkeit brannte wie Feuer, und er krümmte sich zusammen.
»Bei allen Heiligen, was ist das denn für ein Zeug?«
»Jodgeist.«
»Autsch!«
»Von mir kannst du kein Mitleid erwarten. Nicht nach dem, was du heute getan hast. Wir hatten nur wenig Zeit hier zur Verfügung, und die Hälfte der Bücher ist noch nicht durchgesehen. Jetzt hast du die Kultisten auf uns und die Schwestern gehetzt. Du bist ein …«
»Idiot, ja. Ihr habt es schon gesagt.«
Alderan warf ihm einen finsteren Blick zu und drückte den Korken wieder in die Flasche.
Er nahm eine gebogene Nadel und vernähte die Fleischwunde mit raschen, wütenden Stichen. Gair gelang es, währenddessen still liegen zu bleiben, aber bei jedem Stich musste er sich in die Backe beißen. Der Jodgeist hatte seine Wunde unerträglich empfindlich gemacht – sogar ein Luftzug fühlte sich an wie der Stich einer Brennnessel –, und Alderan ging nicht gerade sanft zu Werke.
Als er fertig war, zog der alte Mann die Fäden aus Gairs Schulter und zeigte, indem er den Daumen hob, an, dass er sich aufsetzen sollte. Gair tat es vorsichtig und hielt die Arme über dem Kopf verschränkt, während die jüngste Wunde mit Salbe bestrichen und verbunden wurde.
»Ich weiß nicht, was du dir dabei gedacht hast«, murmelte Alderan, als er den Verband festzog. »Vermutlich hast du gar nichts gedacht. Die Göttin hat die Leahner erschaffen, damit der Rest von uns eine Vorstellung davon hat, was ›gedankenlos‹ bedeutet.«
Gair stand vom Tisch auf. »Ihr habt gehört, was Schwester Sofi gesagt hat. Ich konnte die Nonnen nicht ohne Schutz in die Stadt fahren lassen – nicht nach dem, was mit Resa passiert war.« Er nahm seine Kleidung von einem Schemel an der Wand und zog sich an.
Der alte Mann wusch sich die Hände und trocknete sie sich an dem von Gair beiseitegeworfenen Handtuch ab. »Du magst zwar nicht den Eid geschworen haben«, sagte er, ohne von seinen Händen aufzusehen, »aber im Herzen bist du ein Ritter und so gut wie jeder, der eine Nachtwache für seine Sporen gehalten hat.«
»Ein Ritter muss Vertrauen in die Göttin haben.« Gair zog sich ein sauberes Hemd über den Kopf und steckte es in die Hose. »Ich habe nur getan,
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