Die wilden Jahre
Befreiung mehr, und auch die Höllenmusik war abgebrochen. Im Mund, modrig wie ein trockener Tümpel, saß wieder diese saugende, ziehende Sucht. Während er gegen sie kämpfte, sah er sich im Zerrspiegel dieser Minute: als Trinker, als Schwächling, als Nichtsnutz, der die wilden Jahre als Ausrede benötigte.
Ein Begriff hängte sich an sein Bewußtsein, blieb stehen wie die Nadel auf der Platte, an derselben Stelle – die Nadel wurde zur Kanüle, die ihn mit einer Droge impfte und jeden anderen Gedanken, jegliche Vernunft verdrängte, alles auslöschend, verhexend, entmenschend, um Felix zum Phantasten einer einzigen Vorstellung zu machen: nie mehr im Leben ein Nichtsnutz sein.
Durch die Nebel des Alkohols, durch die Wogen des Zorns, durch die Bilder des Grauens sah Felix den Birnenkopf neben sich, geschlagen, devot und ergeben, williges Werkzeug und ständiger Quälgeist, so lange unterwürfig, bis er wieder Oberwasser hatte.
»Bitte, halten Sie an«, stöhnte er, »lassen Sie mich – lassen Sie mich aussteigen.«
»Aussteigen?« fragte Felix, »habe ich Sie gebeten, einzusteigen?«
»Nein, aber – halten Sie doch bitte an, bitte … wir – wir können uns – sicher – arrangieren.«
»Das haben wir schon einmal getan«, versetzte der Mann aus New York. Seine Stimme klang unbeteiligt: »Für uns gibt es nur noch eines …«
»Ich werde Sie nie mehr belästigen, ich …«
»… die Endlösung«, unterbrach ihn Felix.
»Sie«, keuchte Silbermann, »Sie sind verrückt!«
»Vielleicht.«
»Was – was wollen Sie überhaupt?«
»Erkläre ich Ihnen gern.«
»Wenn Sie mir doch glauben wollten, daß alles nur ein dummer Scherz, ein blödsinniger Irrtum, ein …« Silbermann sah in das knappe, harte Gesicht, das weiß war wie die Maske eines Clowns, über dessen Scherze keiner lacht, und schrie: »Ich schwöre Ihnen …«
»Schon wieder einen Meineid?«
»Sie haben schon einen Mord auf dem Gewissen«, jammerte Silbermann, erschrocken über seinen Mut.
»Wir beide«, antwortete Felix, »und deshalb …«
»Ich will nie mehr etwas mit diesen Dingen zu tun haben!« Die Stimme Silbermanns überschlug sich vor Panik.
»Ich auch nicht. Deshalb«, erwiderte der Mann am Steuer und ging mit der Geschwindigkeit zurück.
Silbermann, den die Angst geduckt hatte, richtete sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während seine Hand nach einer Zigarette tastete.
»Gott sei Dank«, sagte er matt, »daß Sie vernünftig …«
»Irrtum«, unterbrach ihn Felix, »hören Sie gut zu, Silbermann: wir, Sie und ich, haben nicht mehr viel Zeit, und ich fahre jetzt nur langsam, damit Sie mich verstehen können.« Er reichte Silbermann den Zigarettenanzünder. »Sie sollen wissen, wie unser letztes Arrangement aussieht.«
Der Wagen erreichte eine Lichtung. Die Straße führte an einer großen, sanft ansteigenden Wiese vorbei, die die Nachmittagssonne beleuchtete. Die Nadel des Tachometers zitterte bei achtzig, der Motor brummte behaglich, über das Armaturenbrett tänzelten Sonnenflecken, die Stunde badete friedlich im Licht.
»Wenn wir uns – ausgesprochen haben, gehe ich auf Vollgas«, erläuterte Felix, während seine Hände fest am Steuerrad lagen, langgliedrige, gepflegte, nervöse Hände, die einem Ästheten gehörten, der die Gewalt verabscheut: Künstlerhände, Hände eines notorischen Theoretikers, der die Scheuklappen eines Vorsatzes anlegte, um einmal im Leben ein Praktiker zu sein. »Wenn wir die Höchstgeschwindigkeit erreicht haben – etwa hundertzwanzig Stundenkilometer, nehme ich an –, dann suche ich uns ein geeignetes Ziel.«
»Hören Sie doch auf!« lamentierte der Birnenkopf. »Sie haben zuviel getrunken. Das kann jedem einmal passieren. Aber Sie müssen anhalten. Sie brauchen frische Luft …«
»… einen Brückenpfeiler oder eine Telegrafenstange oder einen anderen geeigneten Prellbock.« Felix wunderte sich flüchtig, daß er seine eigene Stimme heute zum ersten Male hörte. »Ein totes Ziel natürlich«, erklärte er weiter, »wir wollen unsere alte Geschichte ganz unter uns austragen und nicht noch andere Menschen …«
Die Glut der Zigarette verbrannte Silbermanns Finger, aber er merkte es nicht in der Narkose der Todesangst, einem Verrückten ausgeliefert, der noch dazu betrunken war – wenn er ihn auch tödlich gereizt hatte, was er gern und ehrlich rückgängig gemacht hätte.
»Dieses Ziel werde ich ansteuern, wie gesagt, mit Vollgas. Ich werde
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