Die wilden Jahre
Verhaftung herum – spätestens in einigen Tagen –, dann fallen die Kurse, und Tausende von Sparern verlieren ein Vermögen, ohne Rücksicht darauf, ob Ritt tatsächlich jemals verurteilt werden sollte, und diese Leute«, schloß Schiele mit noch immer verhaltener Stimme, »sind bestimmt in kein Strafverfahren verwickelt.«
»Diesen Umstand bedaure ich wirklich«, entgegnete Dr. Kleinlein, »aber das ist letztlich höhere Gewalt und kann auch geschehen, wenn der amerikanische Präsident stirbt oder in Korea eine Krise ausbricht.« Zögernd setzte er hinzu: »Ich komme Ihnen gern entgegen: Wenn Sie sich verpflichten, nur firmeninterne Dinge mit dem Verhafteten zu erörtern – unter Aufsicht natürlich –, erteile ich Ihnen eine Sprecherlaubnis.«
»Danke«, entgegnete Dr. Schiele,»aber es genügt mir nicht, denn es ist erst ein Aspekt; Ritts Firma ist der Partner großer Versicherungskonzerne, die fraglos die Geschäftsverbindungen lösen würden, wenn sie erführen, daß er wegen eines weitgehenden Verdachtes in Untersuchungshaft ist.«
»Alles, was Sie vorbringen, habe ich bedacht«, erwiderte der Richter, zum ersten Mal unruhig. »Aber vor dem Gericht sind schließlich alle gleich.«
»Eben«, stimmte Dr. Schiele zu, »wenn alle gleich sind, darf nicht infolge der gleichen Maßnahmen der eine schadlos die Untersuchungszene verlassen und der andere den Zusammenbruch einer Millionenfirma erleiden. Verstehen Sie mich: bevor Ritts Schuld erwiesen ist, träte ein Schaden ein, der in keinem Verhältnis zu einer eventuell zu erwartenden Strafe stünde.«
»Ich habe nicht über seine Schuld zu befinden«, erwiderte Kleinlein, »auch wirtschaftliche Erwägungen gehen über meine Kompetenz. Ich habe lediglich über die Haftgründe zu entscheiden.«
»Das weiß ich«, sagte Dr. Schiele, »deshalb bitte ich Sie ja auch nicht, den Haftbefehl aufzuheben, sondern nur, mir die Möglichkeit zu geben, einen frühen Haftprüfungstermin zu beantragen.«
Dr. Kleinlein überlegte. Formaljuristisch war, nach menschlicher Vernunft, sein Besucher im Recht. Beide mutmaßlichen Täter waren in Haft; eine eigentliche Verdunklungsgefahr bestand somit nicht mehr, aber dem Staatsanwalt würde dadurch die Arbeit erheblich erleichtert. Es war üblich, daß man sich unter Kollegen half, und Kleinlein wollte nicht aus der Reihe tanzen; aber er sah auch keine Veranlassung, für den übereifrigen Rothauch eine übergroße Verantwortung zu übernehmen. Am bedrohlichsten fand der Richter, daß Schiele, der sicher über ungewöhnliche Mittel verfügte, nicht zu drohen versuchte.
»Trotzdem, Herr Kollege«, sagte er dann, »möchte ich eine solche Entscheidung nicht fällen, ohne den Staatsanwalt noch einmal anzuhören.«
»Gewiß – aber ich fürchte den Zeitverlust.«
»Ich werde bestrebt sein, über die Sache so rasch wie möglich zu befinden«, versprach Kleinlein und überlegte, daß sich dieser Anwalt höchstens ein, zwei Tage vertrösten ließe.
»Besten Dank«, verabschiedete sich Schiele. »Noch eine Bitte: Falls Sie sich zu meinen Gunsten entscheiden sollten, würden Sie dann bitte auch die Freundlichkeit haben, zu verhindern, daß der Verhaftete überraschend, auf Weisung der Staatsanwaltschaft, in eine andere Anstalt verlegt wird?«
Der Untersuchungsrichter betrachtete Schiele und nickte. Das Lächeln um seinen Mund verkümmerte sofort; Kleinlein wußte, daß Rothauch auf einen ebenbürtigen Gegner gestoßen war.
Die Zelle hatte Martin wieder, nach fünfzehn Jahren; sie war ein wenig größer und erheblich heller als jene Verliese östlich der Oder, aber sonst war er dem alten Schattenleben ausgeliefert: der Einsamkeit der langen Stunden, der Verzweiflung der Nacht, den dumpfen Geräuschen; nur wenn die Tür aufgeschlossen wurde, mußte er nicht fürchten, daß ein Henker komme.
Selbst die verschärfte U-Haft, die ihm auferlegt wurde, war – verglichen mit den Torturen der braunen Zeit – noch human; kein Häftling schrie mehr nachts im Schlaf, und keiner wurde am Morgen geholt. Es gab kein Fallbeil mehr, wenn auch vorwiegend jene, die gestern Köpfe rollen ließen oder es billigten, heute auf seine Wiedereinführung drängten.
Trotzdem erlitt Martin wieder die alte Angst, wenn auch diesmal nicht um das eigene Leben. Er sah Maman vor sich, die auf ihn wartete, ihn brauchte, die ohne ihn dahinsiechte, deren Kräfte verfielen, der die Trennung von ihm den Tod bedeuten konnte.
Doch deswegen würde er beim
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