Die wilden Jahre
riß die Wahlplakate in Fetzen, schlug papierne Politikerköpfe gegen hölzerne Anschlagwände, vergriff sich an den Röcken der Frauen und machte Männer zu Clowns, die ihre Hüte jagten.
Ein früher Herbst folgte einem müden Sommer; der Septembertag gähnte wie eine offene Gruft. Nebelschwaden trieben durch die Straßen, welkes Laub umwirbelte das neue Hochhaus, das sich breit dem Sturm in den Weg stellte.
Herren in Schwarz neben Damen im Nerz flüchteten durch das breite Marmorportal; sie wurden von zärtlicher Wärme und livrierten Dienern empfangen und zu dem Schnellift geleitet, der sie so flugs in die Höhe schoß, wie der Hausherr dieses modernen Turms zu Frankfurt nach oben gekommen war. Er hieß nicht Krupp, nicht Flick, nicht Thyssen, nicht Stinnes. Er war nicht zwischen Rhein und Ruhr geboren. Er hatte nichts mit Kohle und Stahl zu tun.
Er produzierte nichts; sein Rohstoff war Geld und sein Name neu wie die D-Mark: Martin Ritt.
Er hatte in knapp zehn Jahren so viel erreicht wie die großen Familien der Industrie in drei Generationen; unvermittelt war er in die Geschäftswelt eingebrochen, in das Revier der dunklen Anzüge und gestrengen Bräuche.
Der Hausherr erwies sich als ein Gastgeber von anmaßender Präpotenz.
Die Spannung, unter der seine Rivalen und Vasallen litten, schien er zu genießen. Martin Ritt war zwar zu einem mächtigen Mann geworden, aber er hatte sich übermächtige Feinde geschaffen, die sich seit Monaten heimlich gegen ihn sammelten, um geschlossen gegen ihn vorzugehen. Er begegnete der heimlich-unheimlichen Treibjagd mit einer typischen Ritt-Reaktion: Attacke, Flucht nach vorn.
Das zehnjährige Jubiläum seiner Firma, die Einweihung des Hochhauses und sein zweiundvierzigster Geburtstag hatten den dreifachen Vorwand gegeben, durch eine Einladung Heerschau über Freund und Feind zu halten und dabei unsichtbare Fronten zu verwirren.
Vielköpfig und kopflos war die Unruhe. Gerüchte verkoppelten Wünsche und Ängste. Gefährlich war es, die Einladung anzunehmen, riskant, sie auszuschlagen. Wer erschienen war, wußte, daß er dadurch öffentlich einem Mann seine Aufwartung machte, der vor acht Jahren durch eine Aktienspekulation großen Stils zum vielfachen Millionär und später durch ein umstrittenes Finanzierungssystem zum Umsatzmilliardär geworden war – was er mit der Feindschaft der Banken zu bezahlen hatte.
Ritts Gegenspieler, Präsident Drumbach, habe sich, so munkelte man, einer längst fälligen Mandeloperation unterzogen, um den verhaßten Emporkömmling nicht feiern zu müssen, und eine Gruppe von Privatbankiers sei eigens zum Fischen auf die Bermuda-Inseln geflogen, um ihre Anwesenheit durch Blumengrüße in giftbunten Farben ersetzen zu können.
Die Gäste beglückwünschten den Hausherrn mit tönendenWorten. Das Gespräch war halblaut, der Erfolg des Empfangs noch ungewiß. Wer jetzt erschien, mußte es sich leisten können. Manche Damen, die trotz der Wärme ihre Pelze so ergeben trugen wie die Last ihrer Ehe, begleiteten Herren, die längst Ritts Sturz beschlossen hatten. Schadenfroh und auch angewidert zählten die Zuschauer Gegner, die zu Überläufern wurden und Ritt lobten, rühmten und huldigten, obwohl sie ihn gestern noch gescholten, gehaßt und bekämpft hatten. Martin Ritt war ein Mann, der selbst Besonnene zu Übertreibungen verleitete.
Männer der Wirtschaft standen im Hintergrund, aber Martin Ritt war einem breiten Leserpublikum kein Unbekannter: Ein Boulevardblatt hatte einen Versuch gewagt und
Ritt auf die Titelseite gesetzt, weil er gut aussah, mit Affären nicht sparte, zudem fotogen und reich war. Der Vertrieb des Blattes stellte fest, daß dieser neue Mann dem Leser gefiel, was bald auch andere Zeitschriften feststellten, und so machten sie aus ihm einen bekannten Markenartikel wie Persil oder die Soraya.
Ritt duldete es, ohne dabei etwas zu erdulden. Mitunter war ihm die Kolportage lästig, manchmal nutzte er sie, meist aber blieb sie ihm gleichgültig; er flirtete mit der Macht, nicht mit dem Klatsch.
Was die Schlagzeilen andeuteten, ergänzte die Phantasie der Leser und erteilte Ritt die Zensur: Pirat mit Herz, und so wurde aus einem Börsenmakler ein Frauenheld, aus Martin Ritt ein Robin Hood – wenigstens im Bilderspalier der Massenpresse.
Ritt war wie der Mann auf der Straße im Krieg gewesen, hatte danach mit ihm das Gefangenenlager geteilt und in vielen Nächten von der neuen Karriere geträumt. Zwar waren inzwischen auch
Weitere Kostenlose Bücher