Die Wildnis
Anführer, da war er sich schon mal sicher. Dieser Mensch hatte alle Reste der Zivilisation und der Moral abgelegt und trug seine Grausamkeit wie eine neue Haut. Vielleichtwar er schon immer grausam gewesen – die Anlage dazu hatte er jedenfalls – doch Jack vermutete, dass er sich hier in diesem Land völlig verändert hatte. Mit seinen zurückgeölten Haaren und dem Schnauzer erinnerte ihn der kleine Mann an einen Kartenzocker in irgendeinem Cowboygroschenroman. Er schien die Freiheit des Yukon und alle Schandtaten, die sie erlaubte, in vollen Zügen zu genießen.
Archie war scheinbar seine rechte Hand. Sein Schläger. Jack hatte ihn im Faustkampf besiegt, und ihm war klar, dass ihm dadurch eine ganz besondere Behandlung blühte. Er hatte schon mehrere entsprechende Blicke von Archie aufgefangen und wusste, dass er nur darauf wartete, sich für das zu rächen, was Jack ihm in Dawson City angetan hatte.
Es gab noch sieben andere, die alle bis an die Zähne mit Gewehren und Pistolen bewaffnet waren. Manche trugen dazu noch kurze Holzknüppel, die mit Nägeln gespickt waren. Jack sah in keinem von ihnen eine Chance auf Hilfe oder Flucht – sie waren gierige, wilde, brutale Männer. Verbrecher, die wegen ihrer Taten immer weiter nach Norden geflohen waren und durch die Verheißung des Goldes angelockt wurden. Er hatte schon gesehen, wie einer der Sklaven dafür verprügelt wurde, weil er eine Pause gemacht hatte. Der Mann musste jetzt mit einem zugeschwollenen Auge und einem hinkenden Bein arbeiten, das vermutlich gebrochen war.
Die Sklaven. Es waren zwölf an der Zahl, Jack und Merritt eingerechnet. Ein paar Indianer, vier Schwarze und der Rest Weiße. Den Sklaventreibern war sowohl die Hautfarbe als auch die Herkunft bei der Wahl ihrer Arbeitstiere egal. Vermutlich versklavten sie alle, die stark genug zum Arbeiten waren, obwohl einer der Indianer wie achtzig aussah. Vielleicht griffensie nur Leute auf, die sie auf irgendeine Weise geärgert hatten. Aber unter ihnen war auch ein Franzose, der kaum ein Wort Englisch sprach und auf Jack den Eindruck machte, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun.
Was auch immer die Auswahlkriterien waren, die Sklaventreiber ließen sie bis zum Umfallen schuften.
Nachdem Jack auf dem Rücken des Pferdes aufgewacht war, waren sie die ganze Nacht mit nur einer Pause marschiert, bei der es einen Schluck zu trinken und etwas trockenes Brot gab. Am nächsten Morgen hatte Williams Bande sie zum Goldschürfen in einem kleinen Fluss abkommandiert. Sie waren zuvor, als der Sonnenaufgang die Hügel im Osten erglühen ließ, an den Leichen zweier Männer vorbeigegangen. Ihre Knochen strahlten weiß durch ihr zerrupftes Fleisch hindurch. Sie waren zerfleischt worden, und bis auf die Farbe ihrer Stiefel konnte man sie kaum unterscheiden. Goldgräber-Werkzeug lag um sie herum verstreut – und Jack hatte getrocknetes schwarzes Blut auf den Pflanzen und dem Boden gesehen. Sie waren erst vor kurzem gestorben. Für die nächsten Meilen nach dem grausigen Fund schwiegen sogar die Sklaventreiber.
Wer hat das getan? hatte sich Jack gefragt. Mensch oder Tier? Weder noch? Die brutale Todesart der Männer verfolgte ihn, eine Erinnerung, so handfest wie die tiefen Schatten, die sie zu beobachten schienen. Schatten, die zu dunkel und bedrohlich waren, um ein Wolf zu sein.
Schließlich hatten sie am Fluss Halt gemacht. Der Fluss tauchte aus einer Falte in der Landschaft auf, ergoss sich aus einer engen Klamm voller Baumstämme und plätscherte dann munter über den Grund eines flachen Tals. Dort unten wuchsenwenig Bäume – es sah so aus, als trete der Fluss regelmäßig über die Ufer und flutete das Land –, und der nächste Waldrand war hundert Schritte vom Bach entfernt. Das Flussbett war gerade so tief wie ein Mann groß war, zehn Meter breit, und im Moment nur zu einem Drittel voll.
Es war das perfekte Lager für die Sklaventreiber. Falls einer ihrer Gefangenen versuchte zu fliehen, müsste er zuerst die Böschung hochklettern und dann über offenes Feld laufen, bis er den Wald erreichte. Alle Zeit der Welt, um mit einer Kugel seine Lunge zu durchlöchern.
Sie verteilten die Männer am Fluss entlang – mit gerade genug Abstand, damit sie sich nicht unterhalten konnten –, gaben jedem eine Blechpfanne und befahlen ihnen, nach Gold zu schürfen. Als einer fragte, welchen Anteil vom Gold er behalten dürfe, bekam er zur Antwort einen Gewehrkolben gegen die Kehle.
Die bringen uns eher
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