Die Wildnis
Schmollmund. »Nicht genug Salz?«, fragte sie, und es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass sie immernoch vom Eintopf sprach. Sie hatte die halbleere Suppenschale auf dem Bücherregal entdeckt.
Jack schluckte mit trockener Kehle. Er sah aus dem Fenster in den üppigen Garten hinterm Haus, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz: Wo sollte er hingehen? Er hatte keine Ahnung, wie weit er vom Fluss entfernt war, an dem die Sklaventreiber ihr Lager aufgeschlagen hatten, oder in welcher Richtung er lag. Wegen seiner gebrochenen Rippen tat ihm das Atmen weh. Seine anderen Verletzungen waren zwar nicht schwer genug, um ihn aufzuhalten, aber eine einzige Mahlzeit reichte weder aus, um die Kraft und Energie, die er verloren hatte, wiederherzustellen, noch den Skorbut lange genug aufzuhalten, bis er es wieder zurück in die Zivilisation geschafft hätte. Er hatte weder Waffen noch Proviant noch irgendeine Ausrüstung … und da draußen lief immer noch der Wendigo herum.
»Der Eintopf schmeckt hervorragend«, erklärte Jack.
Sofort hellte sich ihr Gesicht auf, und ihr Lächeln und die Schüchternheit, die er gleich zu Anfang bei ihr bemerkt hatte, kehrten zurück. Dann wurde ihr Ausdruck wieder besorgt.
»Du bist doch sicher am Verhungern. Aber du hast nicht aufgegessen.« Fast demütig zeigte sie auf die stehen gelassene Suppenschale.
Mit seinen Zweifeln ringend, auf der Hut vor ihr und ihrer Umgebung, aber gleichzeitig auch dessen bewusst, wie sehr sie ihn bereits beschützt hatte, ging er zwei Schritte in die Hütte zurück.
»Das war schon meine zweite Portion.«
»Ach so«, meinte sie glücklich und nickte. »Das freut mich.«
Das Mädchen nahm die Schale und trug sie zum Tisch zurück, knapp einen Meter an Jack vorbei. Er roch ihren Zimtduft im Vorbeigehen, die Erinnerung an ihre erste Begegnung überkam ihn, wie sie auf ihm gelegen hatte, den Körper an seinen geschmiegt, wie er ihren Atem und ihren warmen, süßen Geruch eingeatmet hatte.
»Willst du nicht aufessen?«, fragte sie, setzte die Schale ab und sah ihn an.
Jack musste feststellen, dass er sehr, sehr gerne aufessen wollte. Sein Magen knurrte, er konnte den Kanincheneintopf immer noch im Mund schmecken und wollte mehr davon. Gegen ein Glas Wasser oder Whisky hätte er auch nichts einzuwenden gehabt. Felle und Decken, ein warmes Kaminfeuer, Obst und Gemüse … hier wollte er gerne bleiben.
»Wie heißt du?«, fragte er.
Sie drehte sich so schnell zu ihm um, dass es fast eine Pirouette war. Der Saum ihres Rockes wirbelte durch die Luft. »Lesya. Ich heiße Lesya.«
»Du sprichst wunderschönes Englisch, Lesya«, meinte Jack. »Was ist deine Muttersprache?«
Sie zuckte fast unmerklich mit den Schultern, und vielleicht wurde sie ein ganz kleines bisschen rot. »Ich habe schon immer mehr als eine Sprache gesprochen. Stammessprache. Die Sprache der Reisenden. Und andere Sprachen.«
Jack dachte an die Bücher auf ihrem Regal und fragte sich, wer ihr diese ganzen Sprachen beigebracht hatte. Er schätzte sie etwa so alt wie sich, ein Jahr mehr oder weniger. Ihre Sprachbegabung hätte ihn wohl mehr erstaunt, wenn die letzten Tage seine Möglichkeiten, zu staunen und sich zu wundern, nicht erheblich strapaziert hätten.
Lesya stützte sich mit einer Hand auf einen Stuhl, als hätte sie Angst hinzufallen. Sie musterte einen Moment lang sein Gesicht, dann sah sie wieder weg.
»Du hast mir deinen Namen noch nicht verraten«, sagte sie.
»Jack«, antwortete er. »Jack London.«
»London!«, freute sie sich, ihre Augen strahlten vor Aufregung. »Von London hab ich schon mal gehört.«
Ganz verzaubert hielt er die Luft an. Ihre bloße Nähe verwirrte ihn. Er wollte auf einmal etwas bauen, etwas jagen, einen anderen im Kampf besiegen, um sie zu beeindrucken und für sich zu gewinnen. Dieser Impuls erfüllte ihn mit neuem Elan, auch wenn kein Gegner unmittelbar in der Nähe war, mit dem er sich messen konnte.
»Tut mir leid, aber das ist nur ein Name. Ich war noch nie in London. Aber ich hoffe, eines Tages dorthin zu reisen.«
Ein Anflug von Enttäuschung huschte ihr übers Gesicht. »Das wäre wunderbar.« Dann fixierte sie ihn mit einem harten, bohrenden Blick. Ihre ganze Schüchternheit schien verflogen. »Du wolltest gerade gehen. Warum?«
»Ich …?«, setzte Jack an, doch er wusste nicht, was er sagen sollte. Da stand sie, dieses unvorstellbar hübsche Mädchen, umgeben von Dingen, die es eigentlich gar nicht geben konnte, und benahm
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