Die Wildnis
Versagens am Ende dieses Tages behagte ihm überhaupt nicht.
»Vielleicht sind sie einfach zu weit weg«, sagte er. »Vielleicht sind gar keine in der Nähe, die ich …« Er hatte noch keinen Ausdruck für das, was er tat, denn er verstand es immer noch nicht wirklich.
Aber Lesya schüttelte den Kopf und ihre Haare glänzten im Abendlicht. »Jetzt im Moment beobachtet uns einer.«
Jack hielt die Luft an und starrte sie an. »Wo?«
Lesya machte die Augen zu und flüsterte: »Such ihn mit mir.«
Jack versuchte es. Er streckte sich danach, tastete mit allenSinnen um sich. Dieses Mal blickte er tiefer, dorthin, wo nichts zu sein schien. Lesya nahm seine Hand in ihre, er spürte ihre Krallen. Dann berührte er den Puma, knurrte leise tief hinten in der Kehle, sah vom hohen Berg ins Tal hinab, fixierte die kleine Lichtung und die Menschen darauf.
Er stutzte, öffnete die Augen und lehnte sich gegen den Baum zurück.
»Siehst du?«, sagte Lesya und schwieg dann.
»Ja«, nickte Jack, »Aber ich kann es immer noch nicht wirklich glauben.«
»Warte hier«, meinte sie. »Ich gehe jetzt das Abendessen vorbereiten. Etwas Besonderes zur Feier des Tages und ein Glas Wein, um darauf anzustoßen, was wir nun sind.« Sie ging und Jack schaute ihr hinterher. Was wir nun sind, hatte sie gesagt.
Jack runzelte die Stirn und erschauderte.
Was wir nun sind.
Jack wartete auf der Lichtung und beobachtete den Sonnenuntergang. Dabei dachte er darüber nach, was mit ihm geschehen war und was sie gemeinsam getan hatten. Er fühlte sich wie neugeboren, wiedererschaffen als größere, aufwändigere Version seiner selbst. Er hatte Unglaubliches getan. Das wird dir nie einer glauben , dachte er, aber es kümmerte ihn nicht. Das war nicht etwas, das man mit der Welt teilte. Das man an die große Glocke hängen und womit man an kalten Nächten am Lagefeuer prahlen konnte. Das war etwas ganz Persönliches und es bekräftigte seine Verbindung zur Wildnis.
Die Sonne ergoss sich über dem bewaldeten, hügeligen Horizont, der durch die Wipfel und Gipfel zackenförmig gebrochen war. Jack warf in seinem Kopf wieder sein Netz aus, wieLesya es ihm beigebracht hatte, und versuchte, den Wald zu spüren, den sie bewohnten. Er verspürte dabei einen Angstschauer, denn bei allem, was sie ihn gelehrt hatte, hatte sie einen gewissen Punkt nie überschritten. Es ist zu gefährlich , sagte sie dann, oder: Soweit reicht es nicht. Doch Jack war einer, der alles immer selbst herausfinden musste.
Auch Lesyas Wort war kein Ersatz für eigene Erfahrungen.
Deshalb tastete er sich weiter, mit halb geschlossenen, halb offenen Augen, um die Hütte zu beobachten. Da drinnen brannten die Petroleumlampen, er sah umherhuschende Schatten, Lesya kochte für sie. Vielleicht spürt sie mich , überlegte er, ließ sich davon aber nicht abschrecken. Ein Teil von dem, was er für sie empfand, war in der Tat Furcht, und es gab etwas an ihr, das er nicht so deutlich wahrnehmen konnte, wie er wollte … dennoch war er sein eigener Herr.
Er preschte vor, weiter und weiter, jenseits des vertrauten Walds in unbekanntere Gefilde. Und dann spürte er irgendwo da draußen ein Wesen, das er sehr gut kannte – den Wolf! Der schreckte bei seiner Anwesenheit auf, jaulte, und war so weit weg, dass Jack das Heulen hier in der Abenddämmerung nicht hören konnte.
Jack strahlte erfreut und versuchte eine Verbindung zu seinem Schutzgeist aufzubauen. Doch dann verfinsterte sich seine Miene. Der Wolf war noch da, doch er streifte in seinem Geist unruhig hin und her, immer am Rand von Lesyas Reich, als würde er es gerne betreten, konnte es aber nicht. Jack spürte Sorge und Angst und eine heftig aufflammende gewaltige Enttäuschung.
»Was ist denn?«, murmelte er, und der Wolf knurrte in seiner Vorstellung.
»Jack!«, rief Lesya.
Er setzte sich auf, öffnete die Augen und blickte über die Lichtung zur Blockhütte.
»Jack!« Ihr Tonfall klang dringend.
»Was denn?« Er versuchte, schläfrig zu klingen. »Ich muss eingenickt sein.«
»Eingenickt«, wiederholte sie. »Also, das Essen ist jetzt fertig, wenn du dich aufraffen kannst.«
Damit verschwand sie wieder nach drinnen.
Jack stand auf, streckte sich und versuchte, den Wolf wiederzufinden. Vielleicht war es die Störung oder seine Angst, entdeckt zu werden, aber er fühlte sich jetzt seltsam blockiert, er konnte mit seinen Sinnen nicht über diese Lichtung hinausblicken, als wäre der Zauber, den Lesya ihm eingepflanzt hatte, gar
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