Die Wildnis
nicht unter seiner Kontrolle.
Wieso kommst du nicht zu mir? , fragte er. Er dachte an das Knurren des Wolfs, sein ungeduldiges Hin- und Herlaufen, und ihm wurde klar: Genau das versuchte der Wolf ja.
Lesya hatte ihm Fleisch gebraten – Jack hielt es für Hammel, obwohl er hier in der Gegend noch nie Schafe gesehen hatte – und dazu geschmortes Gemüse. Es schmeckte vorzüglich. Sein Magen rumorte, während sie am Tisch saßen und aßen. Lesya war schweigsam und nachdenklich. Dennoch sah sie wunderschön aus, und Jack wusste, dass kein Gesichtsausdruck je ihre Schönheit schmälern konnte.
»Was hast du?«, fragte er schließlich. Sie hatten ihre Teller leergegessen und ihre Becher mit Wein gefüllt, saßen aneinandergeschmiegt auf dicken, flauschigen Teppichen vor dem Kamin. Beide blickten ins Feuer.
»Ich will nicht, dass es diesmal wieder schiefgeht«, flüsterte sie.
Jack runzelte die Stirn. Spricht sie mit mir? Die Flammen züngelten, der Saft in einem der Holzscheite explodierte mit einem lauten Knall.
»Jack«, sagte sie und wandte sich endlich zu ihm. »Ich liebe dich.«
Sein Herz schlug wild, er zwinkerte mehrmals, um klar sehen zu können.
»Du musst jetzt bei mir bleiben.«
»Was? Bleiben?« Ich gehöre nicht hierher, dachte er. Das ist nicht mein Zuhause, ich muss wieder nach Hause , und andere ähnliche Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf, als hätten Lesyas Worte eine Schleuse in seinem Hirn geöffnet, hinter der er sein wahres Wesen gefangen gehalten hatte.
Wie lange war er jetzt schon hier? Sicher waren es viele Wochen. Oder Monate? Die ganze Zeit hatte er den Gedanken verdrängt, dass er eines Tages heimkehren musste, und vor kurzem hätte er noch geschworen, am liebsten ewig bei Lesya bleiben zu wollen. Doch etwas war nun anders. Er fühlte sich beklommen und unbehaglich.
»Ja, Jack«, sagte sie und beugte sich zu ihm, sodass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Ihre Augen waren groß, und er sah Schweißtropfen auf ihrer Oberlippe glänzen. War Lesya tatsächlich nervös? »Weil ich dich liebe, und weil du mich liebst, und weil ich dir so viele Geheimnisse verraten habe.«
»Liebe«, wiederholte er und ließ sich das Wort auf der Zunge schmecken, wie den Wein in seinem Becher. Und wo kommt dieser feine Wein eigentlich her?
»Dieser Ort hier … er ist zauberhaft und er gehört mir,aber … ich bin oft so schrecklich einsam.« Stirnrunzelnd wandte sie ihren Blick ab.
»Lesya, ich weiß nicht, ob ich …«
»Er wird dich umbringen«, flüsterte sie. »Wenn du allein in den Wald gehst, bringt er dich um. Ich spüre schon länger seinen Zorn wachsen, seine Eifersucht. Er ist vielleicht schwach, aber der Wahnsinn verleiht ihm Kraft.«
»Du hast gesagt, du beschützt mich vor deinem Vater.«
»Das stimmt. Aber nicht, wenn du alleine da rausgehst.«
Da war es also. Eine Drohung. Es kam Jack so vor, als würde ein Vorhang geöffnet und ganz neue Seiten von Lesya enthüllt, die sie ihm noch nie gezeigt hatte. Er nickte langsam und drehte sich wieder zum Feuer, damit sie nicht lesen konnte, was in seinen Augen stand.
Lesya legte die Hand auf sein Bein und schmiegte sich an ihn, als gehörten sie zusammen. Ihr Duft überwältigte ihn, ihre Haare waren ein sinnlicher Hauch an seinem Hals und seiner Wange, und er hörte den gleichmäßigen, einlullenden Takt ihres Atems. Liebe , überlegte Jack und versuchte, das Wort in Einklang zu bringen mit dem, was er für Lesya fühlte.
Nicht, wenn du allein da rausgehst …
»Was denkst du?«, fragte sie und klang beinahe verzweifelt.
»Ach, nichts«, sagte Jack. Ein Gefangener , dachte er, und wieder knallte das Holz explosionsartig – wie ein feuriges Lachen im Stakkatotakt.
Am nächsten Tag ging Jack nach dem Frühstück am Rand der Lichtung spazieren. Er spürte, dass Lesya dagegen war, und fühlte die ganze Zeit ihren wachsamen, abwartenden Blickauf seinem Hinterkopf. Obwohl sie ihm in den letzten Tagen viele wundervolle Dinge gezeigt hatte und er sich erfüllt wie nie zuvor fühlte, hatten Lesyas Warnungen vom Vorabend die beiden entfremdet. Sie spürte es vielleicht nicht – er vermutete, sie hatte keine wirkliche Vorstellung, was sie gesagt und getan hatte –, aber jetzt im Moment brauchte er Zeit für sich.
Er setzte sich auf einen Stein und schaute zur Hütte. Er winkte und Lesya winkte zurück. Sie kümmerte sich um ihren Gemüsegarten, drehte ihm aber dabei nie den Rücken zu.
Ich werde bewacht , dachte er. Sie bewacht
Weitere Kostenlose Bücher