Die Wildnis
wischte ihn fort, seine Haut prickelte vor Kälte, und zwinkerte sich die Flocken aus den Augen. Bevor er eingeschlafen war, hatte er beim Feuer gegen die aufziehende Kälte so weit, wie möglich, nachgelegt, aber in der Nacht war die Temperatur weiter gefallen.
Er setzte sich auf, nahm seinen Hut ab, wischte den Schnee runter und betrachtete die dünne Schneeschicht, die das ganze Land bedeckte. Wie viel Zeit hatte er wohl bei Lesya im Waldverbracht? Sicher nicht so viel, dass schon der Wintereinbruch bevorstand? Am Vortag war der Wind noch sanft und die Sonne hell und warm gewesen, sicher an die zwölf Grad. Abends war es dann schlagartig kalt geworden. In der weißen Stille im Winter zuvor hatte er sich an Temperaturen gewöhnt, die eigentlich kein Mensch ertragen sollte, und im Vergleich dazu war der Schneefall heute morgen direkt warm.
Nein, das war nicht der Winter. Jack konnte nicht einmal glauben, dass es schon Oktober war. Ende September höchstens, und ein ungewöhnlich kalter Tag. Wäre ja nicht das erste Mal, dass es so weit im Norden im September schneite. Die Flocken waren dick und feucht, die Temperatur gerade kalt genug für Schnee, irgendwo um den Nullpunkt.
Es ist wunderschön , dachte Jack. Der Anblick des Schnees, der lautlos über das Tal fiel, während der Sonnenaufgang den Horizont erhellte, beruhigte seine aufgewühlten Gedanken. Der Schnee würde fallen, der Winter würde kommen, und im Frühling würde der Regen das Blut von diesen Steinen und den Schrecken von diesem Ort abwaschen. Das war ihm ein gewisser Trost.
Anstatt lange zu versuchen, im Schnee Feuer zu machen, frühstückte Jack nur zwei Stück Trockenfleisch und trank dazu einen Becher Wasser aus dem Fluss. Er zog sich ein Paar trockene, saubere Socken an, die er im Gepäck gefunden hatte, und band sich die Stiefel wieder zu, wobei er für die Handschuhe und den Mantel dankbar war, die er im Lager aufgetrieben hatte. Vor dem Einschlafen hatte er noch die Ausrüstung und den Proviant, den er mitnehmen wollte, im Rucksack verstaut. Jetzt schüttelte er den Schnee von seinen Decken, wickelte sie fest zusammen und band sie über seinen Rucksack. Die beidenColts steckten im Revolvergurt an seiner Hüfte, die Messer auch, der kleine Derringer war in einer Innentasche versteckt, die Axt im Rucksack verstaut und die Büchse hing über seiner Schulter. Über der anderen Schulter hingen die Satteltaschen mit dem Gold der Sklaventreiber.
Derart bepackt war er schon nach hundert Metern müde, doch er wollte auf nichts davon verzichten. Er hatte ja keine Ahnung, wie weit es nach Dawson war oder was ihm unterwegs begegnen würde.
Also stapfte er weiter durch den Schnee, immer am Ufer entlang, wie er sich vorgenommen hatte. Jack hatte gehofft, mit dem anbrechenden Morgen würde es auch wärmer und der Schnee in Regen übergehen oder dass es ganz aufhören würde zu schneien. Stattdessen wurde es noch kälter, der Wind brutaler und der Schnee fiel immer dichter.
Ein schrecklicher Verdacht reifte in Jack heran, nämlich, dass der Schneesturm vielleicht nicht ganz natürlichen Ursprungs sein könnte. Meile für Meile durchschritt er angespannt den Morgen, immer auf der Hut vor irgendeiner Bedrohung, die im Sturm auftauchen könnte. Trotz der Kälte lief ihm vor Anstrengung und wegen der Last des schweren Mantels der Schweiß über den Rücken, und Dampfwölkchen entstanden bei jedem Schritt, so angesrengt atmete er. Das bemerkte Jack kaum, auch das Knurren seines Magens lenkte ihn nur unbedeutend von seiner Wachsamkeit ab. Jeder Baum schien eine finstere Bedrohung darzustellen. Dort, wo der Waldrand bis zum Fluss reichte, beäugte er Äste und Stämme auf der Suche nach etwas Verdächtigem.
Konnte Lesya so weit von ihrem Zauberwald umherstreunen? Sicher würde sie hierherkommen können, aber würdeihr Zauber so weit außerhalb der Reichweite ihres Vaters noch wirken? Jack wusste es nicht und wollte es auch gar nicht herausfinden. Seine Brust verspannte sich vor Furcht bei dem Gedanken daran, was mit ihm geschehen würde, wenn sie ihn finden und zu ihrer Hütte oder ihrem Hain der verfluchten Liebhaber zurückschleifen würde, zu diesen abscheulichen Kreaturen, zu denen diese Männer geworden waren. Er hatte sich alle Mühe gegeben, diesen Anblick aus seinem Gedächtnis zu löschen, doch er wusste, dass der seine Träume sein Leben lang heimsuchen würde.
Stundenlang konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf jeden Schatten, bis er davon
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