Die Wildnis
sich vielleicht unter Blättern verbergen oder so tun, als wäre er ein Fuchs. Doch seine Talente waren noch frisch, und er könnte bestimmt nicht seinen menschlichen Geruch oder seinen Pulsschlag vertuschen.
Er hielt inne und konzentrierte sich. Seine Einfühlung schwenkte vom Fuchs zu einem Kaninchen, und er rannte wieder los. Kann er so was riechen oder erkennen?, fragte er sich. Nimmt er sie überhaupt zur Kenntnis? Er wusste vom Wendigo nur, dass er allein nach Menschenfleisch gierte. Tiere waren höchstens Nebensache. Aber er musste es wenigstens versuchen.
Beim nächsten umgestürzten Baum blieb Jack stehen und schaute sich zum ersten Mal um.
Der Wendigo raste den Hang nach oben. Er kam mit seinen Riesenarmen peitschend und um sich schlagend zwischen den Bäumen durch und sah einen Moment lang wie ein lebender Baum aus. Die Größe kam jedenfalls hin. Jedes Mal, wenn er ein Bein hob, um einen Schritt zu machen, hallte ein scharfes reißendes Geräusch durch den Wald, als würden Wurzeln aus der Erde gerissen. Die Luft um ihn herum schien mit Blut befleckt zu sein – die Atmosphäre war davon vernebelt, die Baumstämme damit bespritzt –, und Jack erkannte, dass das Geräusch von den Wunden am Leib der Bestie herrührte, die ständig neu aufgerissen wurden.
Er suchte nach dem Gesicht des Ungeheuers und war erstaunt, wie sehr es leiden musste. Doch selbst am helllichten Tag verhüllten Schatten sein Antlitz.
Der Wendigo brüllte. Vielleicht sah er ihn oder spürte seinen Blick, jedenfalls verstummte er nach einem Moment, holte laut schnaufend Luft und schnüffelte nach ihm. Äste zersplitterten, als er den Kopf nach links und rechts drehte, Blätter fielen, und dann spürte Jack seine volle Aufmerksamkeit auf sich gerichtet.
Er versuchte zu atmen, konnte es aber nicht. Als er sich umdrehte und weiterlaufen wollte, erkannte er seinen schrecklichen Irrtum: Vor diesem Etwas kann man nicht davonlaufen!
Irgendwann würde er sich ihm stellen müssen.
Zuerst musste er jedoch seine Gedanken sammeln, dafür würde er ein Versteck brauchen.
Im Laufen tastete er voraus und um sich. Er versuchte Lesyas Lektionen und die kleine Gabe der Zauberkraft zu benutzen, um die Eigenschaften der wilden Tiere zu beschwören. Dabei begriff Jack, wie wenig er von seinen seltsamen Talenten verstand, denn beim ganzen Schrecken seiner Flucht hatte er keine Möglichkeit, einzuschätzen, wie viel sie tatsächlich bewirkten. Heute würde er keine zweite Chance bekommen.
Er umklammerte fest sein Gewehr, das Gewicht des Goldes hinderte ihn. Trotzdem kämpfte er sich weiter. Bald spürte er eine Höhle irgendwo vor sich und die letzten Spuren der ehemaligen Bewohner. Rasch schlug er diese Richtung ein und schaute sich ängstlich um, falls die früheren Bewohner in dem Moment zurückkehrten. Solche Befürchtungen waren jedoch so unsinnig, dass er fast lachen musste. Er blickte sichnach dem Wendigo um, der ihn verfolgte – sah jedoch nur Bäume am Hang hin- und herschwanken – und lief dann zur Höhle.
Es war eine alte Schwarzbärenhöhle. Schell wälzte sich Jack in den Überresten am Boden der Höhle. Er stellte sich vor, er sei der Bär, der tief in seiner Kehle knurrte und grollte, mit den Pfoten in der Erde wühlte und sein Fell wütend und abwehrend vor der nahenden Gefahr aufstellte. Er hörte den Wendigo näherkommen und verhielt sich ganz still.
Irgendwo draußen vor der Höhle blieb der Wendigo stehen.
Jack atmete kehlig und schwer wie ein Bär. Er versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Der glaubt das nie , dachte er, und sein Selbstvertrauen schwand gerade in dem Moment, als die Beine des Monsters sichtbar wurden.
Die Öffnung der Höhle war niedrig und mit Hängepflanzen überwuchert. Selbst wenn sie nicht da gewesen wären, hätte Jack weder den Oberkörper noch den Kopf des Ungeheuers sehen können, weil es so riesig war. Seine Beine waren wie blutende Baumstämme, dünn, knorrig und hier und da mit tiefen Wunden übersät. Seine Füße glichen unförmigen Fleischklumpen. Dort, wo Jack die Zehen vermutete, ragten zersplitterte Knochen heraus. Aus den Wunden und Schwielen flossen Blut und andere Körperflüssigkeiten, und an mehreren Stellen an den Beinen ragten merkwürdige spitze Wucherungen hervor, wie Haare, nur dass sie so dick waren wie Jacks Finger.
Als Jack bewusst wurde, dass er den Atem anhielt, musste er nach Luft schnappen. Der Wendigo grunzte, die Beine verdrehten sich, irgendwo außerhalb
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