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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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von Jacks Sichtweite drehte sich wohl auch der Oberkörper. Er hat mich gehört , dachte er.Plötzlich kam ihm die Höhlenöffnung sehr weit weg vor und sehr kostbar. Sie war der einzige Lichtfleck in seiner ständig dunkler werdenden Welt. Durch diese Öffnung würde aber auch der Tod zu ihm kommen. Er kniff die Augen noch mal fest zusammen, dachte sich auf Lesyas Lichtung zurück, sah ihr wunderschönes Gesicht vor sich und konzentrierte sich ganz stark auf die Geräusche und Gerüche eines Schwarzbären. Sie lächelte und nickte zustimmend. Als Jack dann etwas zu ihr sagte, klang es wie ein Brummen.
    Er öffnete die Augen. Der Wendigo schien vor der Bärenhöhle erstarrt zu sein. Jack stellte sich vor, wie er den Kopf zur Seite legte, als würde er auf weitere Geräusche lauschen. Jack brummte also wieder, ein tiefer, kehliger Laut, der auch eine Spur ängstlich klang. Denn er vermutete, dass jeder Bär, der sich diesem Ding gegenüber sah, auch Angst empfinden würde.
    Der Wendigo heulte laut auf – ein Geräusch voller Schmerz und Elend – und stapfte davon.
    Jack stieß erleichtert die Luft aus und kroch rasch wieder zum Höhleneingang. Lange kann ich ihn nicht abschütteln , sagte er sich. Bald wird er die Täuschung bemerken, riechen, und wenn er wiederkommt, werde ich die Überraschung nicht mehr auf meiner Seite haben. Was er vorhatte, war vielleicht unklug und könnte seinen Tod bedeuten, aber er war es auch müde, immer wegzulaufen. Irgendwann würde das Ungeheuer ihn sowieso einholen und sich über ihn hermachen, und er würde voller Angst und Erschöpfung sterben, und sonst gar nichts. Doch auf diese Weise würde er zumindest erst einmal die Oberhand in diesem Kampf haben.
    Er kroch aus der Höhle und stand langsam auf, wobei erfür den Moment die Satteltaschen zurückließ. Der Wendigo befand sich bergauf vor ihm und zog sich an Baumstämmen den Hang hinauf. Sein Kopf war die monströse Parodie eines Menschenkopfes, und ganz kurz dachte Jack, er bestehe aus vielen Körpern, die ineinandergerollt und verschlungen waren. Er blinzelte rasch und versuchte, diesen Eindruck abzuschütteln, doch er wurde die Vorstellung nicht ganz los.
    Er ging in die Hocke, legte das Gewehr an, atmete tief durch und zielte auf die Rückseite dieses massigen Kopfes.
    Als der Wendigo stehen blieb, um nach dem nächsten Stamm zu greifen, drückte Jack ab.
    Der Knall war unglaublich laut. Er machte Jack deutlich, wie totenstill der Wald geworden war. Die Kreaturen des Waldes beobachteten ihn und den Wendigo schweigend. Vielleicht hatten sie dieses Schauspiel bereits viele Male gesehen. Das verfluchte Ungeheuer jagte einen Menschen aus Fleisch und Blut durch die Landschaft, und wie es vermutlich ausgehen würde, wussten sie nur zu gut. Aber wenn die Legende des Wendigo so verbreitet war, musste es unter seinen Opfern wenigstens ein paar Überlebende gegeben haben. Aber da es immer noch als Aberglauben und Märchen abgetan wurde … konnten es nicht allzu viele gewesen sein.
    Jack war sich sicher, dass seine Kugel getroffen hatte, doch ihre einzige Wirkung war, dem Wendigo zu verraten, wo er sich befand. Mit einer Geschwindigkeit, die für seine Größe unglaublich war, wirbelte das Ding herum und kam auf Jack zu. Es brauchte keine Pause, hielt nicht inne, um den Menschen in seiner Nähe ausfindig zu machen … Es kam einfach den Hang herabgestürzt wie eine Lawine aus Fleisch und Knochen. Und damit begann der größte Kampf in Jacks Leben.
    Wieso um alles in der Welt habe ich gedacht, ich könnte dieses Ding besiegen?, fragte er sich, ließ das Gewehr fallen und blieb wie angewurzelt stehen. Doch die Antwort wusste er bereits. Es hatte weniger mit den Täuschungen und Nachahmungen zu tun, die Lesya ihm beigebracht hatte, sondern mehr mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Natur, das er empfand. Dieses Gefühl war mehr und mehr in ihm gereift, seit sie in Dyea an Land gegangen waren. Es passte alles irgendwie. Jack hatte schon lange aufgehört, an der Schicksalhaftigkeit der Mächte zu zweifeln, die seine Reise in Bewegung gesetzt hatten.
    Er hatte die Wildnis weder besiegt noch gezähmt. Er war ein Teil von ihr geworden und sie von ihm.
    Jack stieß einen Schrei aus. Es war weder ein spezieller Tierlaut noch ein menschlicher Schrei. Es war der Ruf der Wildnis, und er legte jedes letzte bisschen Kraft hinein, um seiner geballten Wut Ausdruck zu verleihen. Es durchzuckte seinen ganzen Körper, er richtete den Schrei in den

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