Die Wildnis
Himmel. Seine Haare standen zu Berge, seine Haut kribbelte und seine Knochen schienen mit dem Schrei im Takt zu vibrieren.
Der Wendigo verlangsamte auf Schritttempo, kam jedoch trotzdem weiter auf ihn zu. Sein unförmiger Kopf neigte sich zur Seite, diese Augen eines Wahnsinnigen betrachteten Jack wie einen Leidensgenosssen. Und hatte er da so Unrecht? Jack schrie erneut, diesmal direkt an das Monster gerichtet. Als das Ungeheuer einen Moment zu zögern schien, machte der schreiende Jack einen Schritt auf ihn zu.
Der Wendigo wich zurück, hustete überrascht, kauerte sich hin und streckte den Kopf vor. Er schnupperte und blähte die großen feuchten Nüstern in seinem Schädel. Jack ballte dieFäuste. Sein Herz pochte, das Blut pumpte so rasend durch seinen Körper, dass ihm ganz schwindlig wurde in diesem ungewöhnlichen Sturm.
Und jetzt verrieten die Augen des Wendigos das ganze Ausmaß seines Wahnsinns. Er kreischte und geiferte beim Geruch von Jacks Fleisch und Blut, die Hände schossen vor und griffen nach ihm, wobei er die Äste von den Bäumen abschlug. Die Arme des Untiers waren länger, als Jack gedacht hatte, die Finger noch länger. Jack stürzte nach hinten und spürte die kühle Berührung der Fingerspitzen an seinem Gesicht kratzen. Blut rann ihm über die Lippen in den Mund.
Er leckte die Lippen, schmeckte sein Blut und dachte: Das ist es, was er will.
Der Wendigo kam auf ihn zu, Jack zog das Messer aus seinem Gurt. Er wich dem Hieb eines Armes aus, sprang aus dem Weg und hackte nach einem Fuß. Das Ungeheuer hob ein Bein und stampfte damit auf, während Jack zurückwich. Das Biest würde ihn liebend gern erst zerquetschen und dann verspeisen. Sein Blut wäre danach immer noch frisch genug.
Er lief hinter das Ungeheuer, duckte sich dabei unter etwas hindurch, dass entweder ein Ast oder ein Schwanz war, beugte sich auf das Monster zu und zog das Messer von links nach rechts durch. Er spürte warmes Blut, als die Klinge das Fleisch durchschnitt. Der Wendigo schien es vor all den eiternden Wunden und Schwielen an seinem Körper kaum zu bemerken und griff stattdessen zu Jack hinunter
Jack sprang zwischen seinen staksigen Beine hindurch, schlug einen Haken nach rechts und stolperte dabei über eine Wurzel, die unter dem Schnee versteckt war. Jetzt würde der Wendigo ihn langsam und genüsslich auseinanderreißen, seinebeiden Körperhälften umstülpen und sich sein Blut ins Maul schütten. Jack konnte sich das Bild nur allzu gut ausmalen, während er hinter einen Baum in Sicherheit kroch, gerade außerhalb der Reichweite.
Der Gestank des Wendigos war ekelerregend: Gammeliges Fleisch, Tod, Verwesung, Schmutz und Eiter strömten ihm aus der ledernen Haut. Die Geräusche, die er machte, waren genauso widerlich: einerseits das Knurren, während er ihn suchte, andererseits auch ein fernes, tiefes Rumoren aus seinem Bauch, der Widerhall eines endlosen Hungers, der niemals gestillt werden konnte. Irgendwo dort drinnen rieben sich die Knochen von Jacks Freunden und Feinden aneinander.
Als der Wendigo um einen Baum herum nach ihm griff, stach er mit dem Messer wieder zu. Diesmal schrie der Wendigo auf.
Ohne darüber nachzudenken, gab sich Jack seinem Instinkt hin, verwarf Verstand und Vernunft und gehorchte nur noch seinen Urtrieben. Die meisten Menschen verachteten die letzten Überreste unserer animalischen Natur und hielten sich für etwas Besseres, doch nun spürt Jack die geballte Gewalt seiner menschlichen Urahnen, ihre Gedanken, Gefühle und ihren Überlebenswillen. Tausende Jahre vor ihm hatten die Urmenschen die Natur herausgefordert und besiegt, und nun tat Jack es ihnen nach.
Sein Messer war Zahn und Klaue, die Geschwindigkeit sein Verbündeter, Furchtlosigkeit sein Antrieb. Er hatte den Tod im Nacken und jeder Herzschlag konnte sein letzter sein. Doch die Gefahr gab ihm Kraft, denn der Kampf um Leben und Tod war die treibende Kraft der Natur.
Der Kampf verschwamm in seinem Bewusstsein. Der Wendigoschrie, und Jack schrie auch. Himmel und Erde standen Kopf, Äste schlugen ihm ins Gesicht, der überwältigende Mundgeruch des Monsters blies ihm in die Augen und drang ihm in den Rachen. Seine Hand war heiß vor Blut und glitschigen Innereien. Sie hielt immer noch das Messer umklammert, er spürte jedoch nicht mehr den Griff in seiner Hand, so als wären er und das Messer eins.
Er schlug, schnitt und stach, rollte sich über den blutbefleckten Schnee am Boden, fühlte, wie sich die Landschaft um
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