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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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ihn bewegte, während er nach allen Seiten hin- und herschnellte, in Lauerstellung ging und sprang. Die Wildnis gab ihm die Bodenhaftung, von der er seine Angriffe starten konnte, und irgendwann – vielleicht hatten sie schon Stunden gekämpft, vielleicht nur Minuten – schrie der Wendigo wieder und diesmal klang es anders.
    Und in diesem Schrei hörte Jack die Angst.
    Er verdoppelte seinen Angriff, Wut und Zorn brachen einer solchen Raserei Bahn, wie er sie noch nie gekannt hatte. Eine Zeit lang war er ein wildes Biest, das nur in der Gegenwart existierte, ohne einen Gedanken an die Zukunft oder die Vergangenheit zu verschwenden – er war nicht mehr Jack London, er hatte keinerlei Familie, und morgen war ein unbekanntes Wort.
    Irgendwann merkte Jack, dass das Geschrei und Gekreische aufgehört hatte. Er bewegte sich immer noch über der feuchten, warmen Erde hin und her, stach zu und duckte sich wieder weg, und es dauerte eine ganze Weile, bis er merkte, dass der Boden unter seinen Füßen nicht mehr der Waldboden war. Er war voll Schweiß und Blut. Der Boden roch nach frischem Tod. Jack stand auf dem Leichnam des Wendigos.
    Jack holte tief Luft, richtete sich auf und sah sich um. Er stand auf der Brust des Ungetüms, den linken Fuß in einer Pfütze aus dickem, dunklem Blut. Das Ding hatte die Arme und Beine von sich gestreckt, alles war zerschnitten und zerschunden, eine Hand fast am Gelenk abgetrennt, die Finger umklammerten einen Baum und gruben sich in die Rinde. Links von ihm lag der Kopf der Bestie, nach hinten geworfen, das monströse Maul weit aufgerissen. Dampf stieg ihm aus der Mundhöhle und aus dem, was von seinem Hals und Rachen übrig war.
    Irgendetwas pfiff und blubberte, und Jack hörte den letzten Atemzug des Wendigos.
    Jetzt kann ich wieder normal sein , dachte er, war sich jedoch nicht ganz sicher, denn es fühlte sich immer noch nicht richtig an. Das Herz hämmerte in seiner Brust, und seine Hand weigerte sich, das Messer loszulassen. Und dann dieser Geruch …
    Der Verwesungsgestank war verschwunden und an seine Stelle der Duft von frisch zubereitetem Essen getreten, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Da wurde etwas gekocht – er roch das leckere Fleischaroma, das brutzelnde Fett stach ihm in die Nase, dazu der feine Geruch von geschmortem Gemüse. Er seufzte und fiel auf die Knie, schloss die Augen und ließ sich wieder in Lesyas Lichtung transportieren, wo er ihr beim Kochen und Zubereiten der Mahlzeiten zusah. Bei jedem Atemzug wurde der Geruch unwiderstehlicher, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen.
    »Ich dachte, ich wäre nicht mehr hungrig«, wunderte sich Jack laut, doch der leckere Essensgeruch um ihn herum strafte ihn Lügen. Scheinbar hatte er mehr Hunger, als er es jefür möglich gehalten hätte. Hatte Lesya ihn hungern lassen, während sie ihn ihre Zauberkünste gelehrt hatte? Hatte sie ihm nur ein Trugbild von Essen vorgesetzt? Im Laufe der Zeit Schicht für Schicht seines Körperfetts abgetragen, um an seinen innersten Kern zu gelangen …?
    Um ihn herum setzten wieder die Geräusche des Waldes ein. Der Vogelgesang schien ganz besonders melodiös, das Rascheln und Fiepen der Kleintiere im Unterholz ganz besonders lebhaft zu sein. Insekten summten, Fliegen flogen, Jack kam sich langsam vor wie der Mittelpunkt des Ganzen. Er sah mehrere Vögel auf Ästen sitzen, die bei seinem Kampf mit dem Wendigo abgebrochen worden waren, und lauschte ihrem Gesang. Er streckte seinen Geist nach ihnen aus und wollte in ihren Gesang mit einstimmen, doch vor ihm und um ihn herum verdunkelte irgendetwas seine Wahrnehmung und schnitt ihn von seiner Umgebung ab.
    »Ich heiße Jack London«, sagte er, doch die Worte schienen keine Bedeutung zu haben. Sein Bauch rumorte und brüllte, als sympathisiere er mit dem schrecklichen Hunger, den er beim Wendigo verspürt hatte. Seine Kehle war ausgetrocknet. Fleisch wird meinen Hunger stillen , sagte er sich, Blut wird meinen Durst löschen.
    Der Boden schien sich unter seinen Füßen zu bewegen, Bäume wuchsen um ihn herum in die Höhe. Er sah sich einen Moment lang verwirrt um und bemerkte dann, dass der Körper des toten Wendigos schrumpfte. Haut und Fleisch schrumpelten zusammen und zerfielen. Blut pulsierte aus dem rohen Fleisch, die Gliedmaßen zogen sich zusammen, Bauch und Brust sanken ein, und der Kopf des Untiers kippte zur Seite.
    Bald würde vom Wendigo nichts mehr übrig sein. Jack musste ab jetzt Fallen stellen, Kaninchen

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