Die Wildnis
jagen, häuten, ausnehmen und braten, doch davor würde er womöglich schon dem Hunger zum Opfer fallen, er würde unter diesem wilden Himmel einen schmachvollen Tod sterben …
Wenn er nicht …
Er ließ sich rittlings auf dem schrumpfenden Körper nieder, streckte die rechte Hand aus und schnitt ihm eine Scheibe blutigen Fleisches und Haut aus der Brust. Er hielt das Fleisch ans Licht und untersuchte es – es war dunkel und schwer und triefte immer noch vor dickem Blut. Er hielt es sich unter die Nase, nur einen Fingerbreit von der Nase entfernt, und atmete den Geruch ein. Es roch süß und roh, aber nicht bedrohlich.
Sein Magen knurrte so sehr, dass es wehtat. Er stöhnte und atmete ein. Der ekelhafte Gestank von fauligem Fleisch stach ihm in den Rachen. Ehe er sich versah, musste er sich übergeben, kippte zur Seite und warf das verwesende Fleisch auf den Boden. Er übergab sich noch einmal und rollte sich weg. Endlich löste sich Jacks Griff, und er ließ das Messer fallen. Er blieb an einem Baum liegen, keuchte blinzelnd den Himmel an, setzte sich dann und schaute sich auf dem blutgetränkten Kampfplatz um.
In der Mitte lag der tote Wendigo, dessen Verwesung immer schneller voranschritt. Eine Unmenge Fliegen ließ sich auf ihm nieder, sein Fleisch wurde schwarz, die Haut schrumpelte, und er nahm furchtbarerweise wieder die Gestalt eines Menschen an.
Jack hatte überhaupt kein Bedürfnis, genauer hinzusehen, wie der Mann ausgesehen haben könnte. Stattdessen ging er rasch Richtung Bärenhöhle und versuchte, nicht daran zu denken,was er beinahe getan hätte … was er beinahe geworden wäre. Er hob das Gewehr und die voll beladenen Satteltaschen auf und ächzte unter den Schmerzen, die der Kampf in seinen Muskeln hinterlassen hatte. Das Gewicht des Gewehrs fühlte sich gut an, jetzt, da der Wendigo tot war, denn die weiteren Gefahren, die ihm begegnen könnten, waren vermutlich alltäglicher Natur. Er brauchte etwas zu trinken. In seiner Trinkflasche war noch ein Schluck Wasser übrig. Am Fluss unten könnte er sie auffüllen. Vielleicht würde er unterwegs einen Hasen schießen können, ihn häuten und ausnehmen, heute Nachmittag zubereiten …
Er fiel auf die Knie. Fast hätte ich das gegessen! Wenn er das Fleisch des Wendigos gegessen hätte, wäre er selber einer geworden, eine verfluchte Seele, dazu verdammt, die Wildnis zu durchstreifen und sich über das Fleisch unschuldiger Reisender herzumachen. Sein Hunger wäre endlos, sein Leid ewig gewesen, bis er einen mutigen, starken Gegner getroffen hätte. Mit einem Messer.
Jack hatte sich noch nie so wild und brutal erlebt wie in seinem Kampf mit dem Wendigo. Es hatte sich alles so richtig angefühlt, doch danach hatte die Wildnis ihn fast dazu gebracht, das Fleisch seines besiegten Gegners zu essen. Etwas hatte ihn davon abgehalten. Irgendein Rest von Menschlichkeit, wofür er ewig dankbar sein würde.
»Ich heiße Jack London«, sagte er laut, »und ich bin ein Mensch.« Der Wald antwortete ihm mit einer kurzen Stille, doch als er den Hang hinabstieg, erwachte der Wald wieder zum Leben. Zu ganz normalem, ungestörtem Leben.
Der Sturm ließ nach, als er den Fluss erreichte, und er konnte seine Fußstapfen noch in der dünnen Schneedecke erkennen,da, wo er vor dem Wendigo geflohen war. Es kam ihm vor, als wären seitdem Wochen vergangen, aber es konnten kaum mehr als wenige Stunden gewesen sein. Er sah auch die Spuren des Wendigos, was ihm zu denken gab. Die Jagd und der Kampf kamen ihm jetzt schon wie ein böser Traum vor. Es schockierte ihn, hier solch handfeste Beweise der Existenz des Ungeheuers zu entdecken. Er betrachtete das Blut an seinen Händen und unter seinen Fingernägeln und fragte sich, was passieren würde, wenn er etwas davon verschluckte. Panik stieg in ihm auf. Er spürte, wie das frische Blut in seinem Gesicht und an seinem Hals festtrocknete. Als es vorhin im Wald so reichlich geflossen und gespritzt war, musste er einfach etwas davon in den Mund bekommen haben, keine Frage.
Er fiel am Flussufer auf die Knie spritzte sich mit beiden Händen das eiskalte Wasser ins Gesicht und über den Kopf. Er erschrak vor der Kälte, doch er war auch dankbar für die reinigende Wirkung des Wassers. Verwässerte rosa Blutspritzer befleckten den Schnee um ihn herum. Er wusch sich ab, schrubbte seine Hände, kratzte mit der Messerspitze unter den Fingernägeln und scheuerte so fest, dass er seine Haut aufschabte. Er wusch sich, bis Blut kam, und
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