Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
schien nichts zu geschehen. Sie sah den Zug … ängstliche Gesichter an den Fenstern … einen Mund, der vor Staunen aufging … einen Gewehrlauf, der sich auf sie richtete … und dann kam der Knall.
    Danach ein blendender Blitz und ein schreckliches Geräusch, als die Explosion zwei Wagen auseinanderriss, drei weitere entgleisen ließ und vom Damm schleuderte. Willa selbst wurde von der Druckwelle in die Düne gedrückt. Nadelscharfer Sand bohrte sich in ihr Gesicht und ihre Hände. Metallteile regneten auf sie herab. Ein Stück verkohltes Holz traf ihren Arm, zerriss ihr Hemd und schürfte die Haut auf. Sie spürte es kaum. Sie war nur erleichtert, dass es die Kamera nicht getroffen hatte.
    Dann folgten dicker, schwarzer Rauch und die Schreie der Verletzten. Hinter ihr ertönte ein Kampfruf, eine einzelne Stimme zuerst, dann fielen andere ein, und schließlich stürmten die Männer, aus allen Gewehrläufen feuernd, an ihr vorbei die Düne hinab.
    Willa raste mit ihnen hinunter, stolperte auf dem nachgebenden Sand, fiel beinahe hin und richtete sich wieder auf, ohne einen Moment mit dem Drehen aufzuhören.
    Sie hörte das Zischen der Kugeln und spürte den Einschlag eines Geschosses nahe an ihrem Fuß. Einem Mann neben ihr wurde der Kopf abgerissen. Blut spritzte auf ihre Wange. Aber sie rannte weiter, schwenkte die Kamera über den Zug, konzentrierte sich auf das Gefecht und hielt den Gesichtsausdruck eines Beduinen fest, der Allah dankte, dass seine Kugel ihr Ziel getroffen hatte.
    Der Kampf tobte etwa eine Stunde lang. Dann war es vorbei. Der türkische Kommandant ergab sich. Seine Soldaten wurden gefangen genommen und Waffen erbeutet. Die übrig gebliebenen Waggons wurden in Brand gesetzt. Auda hatte acht Männer verloren. Die Türken weitaus mehr. Willa hatte alles auf Zelluloid und nur einmal innegehalten, als die Schießerei vorbei war, um eine neue Rolle einzulegen.
    Lawrence sollte später sagen, dass es ein sehr harter Kampf gewesen sei und die Türken beinahe gewonnen hätten. Sie alle wussten, was das bedeutet hätte. Wenn sie verloren hätten, wären sie jetzt tot. Vielleicht hätte man Lawrence gefangen genommen, aber alle anderen vermutlich erschossen.
    Willa war das gleichgültig. Sie hatte keine Angst gehabt, keine Sekunde lang. Sie spürte nur die finstere Entschlossenheit, Lawrence und seine Männer im Kampf zu filmen. Und ein paar Augenblicke lang die wilde Hoffnung, es gäbe keinen Schmerz mehr, keine Trauer, keine Schuld, nur noch Vergessen.

   49   
    C aptain Seamus Finnegan stand auf der Brücke seines Zerstörers, der Hawk , und sah durch sein Fernglas auf das glitzernde Wasser des südöstlichen Mittelmeers hinaus. Ein besorgter Ausdruck lag auf seinem Gesicht.
    Sie befanden sich dort unten. Unter der ruhigen Oberfläche der blauen See glitten deutsche U-Boote dahin wie dunkle, stumme Haie. Er konnte sie spüren und würde sie aufstöbern.
    Als er das Fernglas senkte, tauchte Lieutenant David Walker neben ihm auf. »Sie wollen uns rauslocken. Von der Küste weg«, sagte er.
    »Das ist mir bewusst, Mr Walker«, antwortete Seamie. »Sonst können sie uns keinen Treffer verpassen. Wir allerdings auch nicht.«
    »Unsere Befehle sind absolut klar. Sie lauten, dass wir an den Küste entlangpatrouillieren und nach deutschen Schiffen Ausschau halten sollen.«
    »Unser Befehl, Mr Walker, lautet, den Krieg zu gewinnen«, erwiderte Seamie knapp. »Und ich und diese Besatzung, zu der Sie gehören, werden unser Bestes tun, ihn auszuführen. Ist das klar?«
    »Absolut, Sir«, antwortete Walker gepresst.
    Seamie hob wieder sein Fernglas und beendete das Gespräch. David Walker war ein Feigling, und Seamie konnte Feiglinge nicht ausstehen. Walker war ständig darum bemüht, die Angst um seine persönliche Sicherheit mit übertriebener Befehlstreue zu vertuschen. Während der vergangenen vier Monate hatte Seamie mehrmals versucht, ihn von der Hawk abberufen zu lassen, und beschloss jetzt, seine Anstrengungen in dieser Hinsicht zu verdoppeln.
    Im Gegensatz zu Walker war Seamie ein hochdekorierter Marinekapitän. Er persönlich war für die Versenkung von drei deutschen Kriegsschiffen verantwortlich gewesen und als Mitglied der Besatzung verschiedener Dreadnoughts und Zerstörer für den Untergang weiterer acht. Das war ein eindrucksvoller Rekord, der nicht durch ängstliche Bedenken über die eigene Sicherheit erreicht worden war.
    Einen Tag nachdem Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt

Weitere Kostenlose Bücher