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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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hatte, war er zur Royal Navy gegangen. Wegen seiner umfassenden Kenntnisse der Seefahrt und des Mutes, den er bei zwei Antarktisexpeditionen bewiesen hatte, wurde er gleich bei der Einschreibung zum zweiten Leutnant ernannt. Sein mutiges Verhalten in der mörderischen Schlacht von Gallipoli 1915, als die Alliierten vergeblich versuchten, durch die Dardanellen nach Istanbul vorzustoßen, sicherte ihm den Rang eines ersten Leutnants, und seine Tapferkeit in der Schlacht von Jütland vor der dänischen Küste, als sein Schiff zwei deutsche Zerstörer versenkte, machte ihn zum Kapitän.
    Viele bezeichneten ihn als kühn, andere, wie Walker, nannten ihn tollkühn und verwegen – natürlich nur hinter seinem Rücken. Aber Seamie wusste, dass er nicht verwegen war. Er ging zwar Risiken ein, aber die ließen sich nicht vermeiden im Krieg, und diejenigen, die er einging, waren sorgfältig kalkuliert. Er kannte seine Mannschaft und was sie zu leisten vermochte, und er kannte sein Schiff – jeden Spanten und jede Schraube davon.
    Die Hawk war kein riesiges Schlachtschiff und damit kein einfaches Ziel für U -Boote. Sie war leichter und schneller als die Dreadnoughts, für Patrouillenfahrten gebaut, um rasch in feindliche Häfen einzudringen, Minenleger zu jagen und U -Boote aufzustöbern. Ihr Bug war speziell verstärkt, um auftauchende Unterseeboote zu rammen. Ihr geringer Tiefgang machte es deren Torpedos schwer, sie zu treffen. Sie war mit Horchgeräten ausgerüstet, um U -Boote aufzuspüren, und mit Wasserbomben, um sie zu zerstören.
    Seamie senkte sein Fernglas erneut und dachte nach. Sie befanden sich nur eine halbe Meile vor Haifa, einer Hafenstadt im westlichen Arabien. Sie konnten auf Sicherheit gehen, nördlich oder südlich entlang der Küste fahren und nach verdächtig aussehenden Schiffen Ausschau halten oder aufs offene Wasser hinaussteuern – ein gefährlicheres Unterfangen.
    Die Deutschen verfügten über einen effektiven Nachrichtendienst und wussten nur allzu oft über die genaue Position britischer Schiffe im Mittelmeer Bescheid. Ganz so, als würde ein unsichtbarer Schachmeister seine Figuren ständig näher und näher an die Hawk und ihre Schwesterschiffe heranschieben. Seamie fragte sich oft, wo dieser Meister saß. In Berlin? In London? In Arabien? Höchstwahrscheinlich jedoch war dieser Mann hier. Ganz sicher sogar. Seamie und die anderen Kapitäne gaben selten Nachrichten über die Position ihrer Schiffe über Funk weiter, aus Angst, sie würden abgefangen werden. Dieser Jemand – oder seine Informanten – musste also in der Nähe sein, um so genau über ihre Bewegungen Bescheid zu wissen. Die Schiffe beobachten. Die Gespräche in den Hafenstädten, den Basars und den Offiziersmessen belauschen.
    Dank ihres eigenen effektiven Geheimdienstes wussten auch Seamie und die Kapitäne der Alliierten oft, wo sich die Schiffe der Deutschen befanden, allerdings nicht deren U -Boote. U -Boote waren eine ganz andere Sache, wesentlich schwieriger aufzuspüren – selbst wenn es gelang, deutsche Nachrichten abzuhören.
    Seamie wusste genau, was es bedeutete, von einem U -Boot aufgespürt zu werden. Er hatte gesehen, welche Verheerung ein Torpedo anrichten konnte. Er hatte die Explosionen und Brände mitbekommen, die Schreie der sterbenden Männer gehört und geholfen, die zerfetzten und verkohlten Leichen zu bergen. Er und mit ihm die ganze Welt hatten vom Untergang der Lusitania gelesen, vom Tod der fast zwölfhundert zivilen Passagiere – eine so schändliche Tat, dass deshalb die Vereinigten Staaten, die ihre Söhne eigentlich nicht auf fremden Schlachtfeldern opfern wollten, in den Krieg eingetreten waren.
    Aber er erlaubte sich nicht, über solche Konsequenzen nachzudenken. Er dachte nicht daran, dass er oder seine Männer sterben konnten. Er dachte nicht an die Frauen und Kinder, die seine Mannschaft in England zurückgelassen hatte. Er dachte nicht an sein eigenes Kind James, den kleinen Jungen, den er so liebte, oder an seine Frau Jennie, die er nicht liebte. Er dachte auch nicht an Willa, die Frau, der seine innigsten Gefühle galten. Er dachte nur an die Notwendigkeit, feindliche Matrosen ins Verderben zu schicken, bevor dieses Schicksal ihn und seine eigene Mannschaft traf.
    »Mr Ellis«, sagte er jetzt zu seinem Steuermann, »nehmen Sie Kurs auf dreihundert Grad Nord.«
    »Aye, aye, Sir«, antwortete Ellis.
    »Offenes Wasser, Sir?«, fragte Walker.
    »Ja, Mr Walker. Offenes Wasser.«
    »Aber, Sir,

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