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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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geworden. Kurz nachdem Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt hatte, telegrafierte Sid an India, unter keinen Umständen mit den Kindern in die Vereinigten Staaten zurückzukehren – nicht bevor der Krieg vorbei sei. Wie alle anderen dachte auch Sid damals, er würde nur ein paar Monate, höchstens ein Jahr dauern, was nicht der Fall war. Die Deutschen hatten Belgien eingenommen, dann Frankreich, und es sah ganz danach aus, als würden Italien und Russland ebenfalls fallen. Einige Monate lang machte es den Eindruck, als könnte den Kaiser überhaupt nichts aufhalten. Sid befürchtete, er könnte auch England einnehmen und seine Frau und seine Kinder wären in London, wo er sie nicht beschützen konnte. Also übergab er die Ranch in die Hände eines zuverlässigen Verwalters und machte sich auf die lange Reise nach Southampton. India sagte er nichts von seinem Kommen, weil sie sich sonst nur Sorgen gemacht hätte. Eines Tages stand er einfach auf Joes und Fionas Türschwelle.
    India war wütend auf ihn. »Hast du nicht gehört, dass deutsche U -Boote auch zivile Schiffe angreifen?«, fragte sie ihn aufgebracht, aber dann küsste und umarmte sie ihn und gestand ihm, wie froh sie sei, dass er da war.
    Schon vor seiner Ankunft hatte sie Mauds Anwesen in ein Hospital umgewandelt und mit Personal ausgestattet. Sie war ja schon zuvor ziemlich vermögend gewesen, und zudem hatte ihr Maud ein großes Erbe hinterlassen. Auch Joe und Fiona trugen zum Unterhalt des Hospitals bei. Als India vorschlug, aus London fortzugehen, um in dem Hospital zu arbeiten, willigte Sid sofort ein. London war ohnehin kein guter Ort für ihn. Man hatte ihn zwar schon vor Langem von der Anklage freigesprochen, Gemma Dean, eine frühere Freundin, ermordet zu haben, aber das war nicht seine einzige Sorge, denn in der Londoner Unterwelt gab es zweifellos immer noch Leute, die sich an ihn erinnerten – und nicht unbedingt auf die freundlichste Weise. Je eher er die Stadt verließ, desto besser.
    Als sie mit dem Zug nach Oxford fuhren, fragte er sich, womit er sich beschäftigen sollte, wenn India den ganzen Tag als Ärztin arbeitete. Bei seiner Ankunft in England hatte er sich überlegt, zur Armee zu gehen, aber dort hätte man ihn vermutlich nicht genommen – mit einem lahmen Bein und den Narben auf seinem Rücken, die ihm als jungem Mann im Zuchthaus mit der neunschwänzigen Katze beigebracht worden waren. Diese Narben wiesen ihn eindeutig als Zuchthäusler aus, und die Rekrutierungsoffiziere mochten ehemalige Häftlinge nicht besonders.
    Doch Sid musste sich nicht lange überlegen, wie er sich nützlich machen konnte. Im Hospital wurde jede freie Hand gebraucht. Er half, den Gemüsegarten umzugraben, der in Zeiten der Rationierung für die Versorgung unbedingt notwendig war. Er half, Eierkisten, Mehlsäcke und Fleisch von Märkten und Bauernhöfen in die Küche zu transportieren. Er half, die geschundenen Körper der Soldaten, Matrosen und Flieger zu waschen, sie anzuziehen und zu füttern, und dabei redete er mit ihnen, um sie zu beruhigen und wieder aufzumuntern.
    Junge Männer aus der Arbeiterklasse, die sich bei Gesprächen mit gebildeten Medizinern nicht wohlfühlten, hörten Sids Ostlondoner Dialekt, den er selbst nach Jahren im Ausland nicht verlernt hatte. Sie sahen seine rauen Arbeiterhände und erkannten ihn als einen der ihren. Sie vertrauten und öffneten sich ihm. Sie erzählten ihm von ihrem Leben, ihren Verwundungen und Ängsten – Dinge, die sie den Ärzten nicht anvertraut hätten.
    Und zu seiner großen Überraschung stellte Sid fest, dass ihm das Reden und Zuhören gefiel und dass er sehr gut darin war. Sein früheres Leben in England hatte sich ums Nehmen gedreht – sei es Geld, Schmuck und viele andere Dinge, die ihm nicht gehörten. Jetzt ging es ums Geben, und das erschien ihm das Wertvollste, was er je getan hatte.
    »Schon mal daran gedacht, Medizin zu studieren?«, fragte ihn India, als sie wieder einmal sah, welche Wunder er an einem geschundenen Körper oder einer gebrochenen Seele vollbrachte.
    »Nein, das ist doch Kinderkram. Ich hab was Besseres zu tun«, antwortete er neckend. »Ich stell gerade eine Fußballmannschaft zusammen. Die Jungs sind verrückt danach. Damit krieg ich sie ins Freie, und sie bewegen sich. Entschuldige mich, mein Schatz.« Als er mit einem Klemmbrett in der Hand in die Turnhalle eilen wollte, die er in einem der Ställe eingerichtet hatte, hielt ihn India am Ärmel fest, zog ihn an

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